Sonntag, 15. September 2019


Lapidar (das Elend dieser Welt)





I



























Die römische Lapidarschrift, Capitalis monumentalis, war ursprünglich eine in Stein, lat. lapis, gemeißelte, ausschließlich aus Versalien bestehende Serifenschrift, die insbesondere auf Inschriften Anwendung fand, die dem Volk lapidar von den glorreichen Taten der Herrschenden künden sollten.

Dienstag, 3. September 2019


Die Hoffnung stirbt zuletzt


Manche Sätze bereiten mir seltsame Schwierigkeiten. Ein für mich geradezu prototypisches Exemplar dieser Spezies ist der vermeintlich so harmlose Stoßseufzer, den, zum Beispiel, schon mancher Fußballfan angesichts der schier aussichtslosen Situation seines Herzensclubs im Abstiegskampf ausgestoßen hat: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Natürlich weiß ich um die Metaphorik des Satzes. So wie der Dax nicht klettern, der Staat nicht eingreifen oder der Markt sich nicht selbst regulieren kann, so kann natürlich die Hoffnung auch nicht sterben, handelt es sich doch bei ihr wie bei allen anderen nicht um ein belebtes Wesen. Aber so, wie wir die Dinge nur zu gerne beim Wort nehmen, wenn es um den Dax, den Staat oder den Markt geht, so tue ich es ihnen gleich, wenn es um die Hoffnung geht. Deshalb überkommt mich stets ein Anflug von Trauer, wenn ich eben diesen einen Satz höre: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Er tut zum Verrecken nicht das, was er tun sollte – er spendet mir im Augenblick völliger Aussichtslosigkeit weder Trost noch lässt er mir einen Silberstreif am Horizont aufscheinen. Ganz im Gegenteil: Er besitzt für mich eine geradezu apokalyptische Dimension. Denn wenn es doch die Hoffnung ist, die zuletzt stirbt, so heißt dies doch nichts anderes, als dass alles andere wie auch alle anderen bereits vor ihr gestorben sind. Es also nichts und niemanden mehr gibt, der noch Hoffnung haben kann. 

Tritt dereinst der Fall ein, dass dieser Satz wahr wird, so läge das Ende längst hinter uns. Die Hoffnung hätte uns überlebt.

Montag, 2. September 2019


Hoch zu Ross


Um ehrlich zu sein: Ich hab das Gewese, das die christlichen Kirchen um Martin von Tours vulgo Sankt Martin seit über 1500 Jahren machen, nie so recht begriffen:

Eben jener Martin war nicht irgendein namenloser Soldat Roms, stationiert im unwirtlichen Norden Galliens – er war Mitglied der Kaiserlichen Garde, Soldat der Reiterei und Sohn eines namhaften römischen Militärtribuns, also eines hohen Offiziers. Eben dieser Martin, so will es die Legende, begegnete, hoch zu Ross sitzend, an einem Wintertag am Stadttor des heutigen Amiens einem armen, unbekleideten Mann. Er erbarmte sich seiner, nahm seine Chlamys, seinen aus zwei Teilen bestehenden und mit Schaffell gefütterten Umhang, zerteilte ihn mit seinem Schwert und reichte ihn dem bitterlich Frierenden.

So weit, so gut. Klingt nach einer vorbildlich barmherzigen Tat. Doch da gibt es so manches, was einen stutzen lässt: Bei Martin handelte es sich ja wie gesagt nicht um irgendeinen gewöhnlichen Soldaten, der sich inmitten einer Kohorte einfacher Soldaten durch den winterlichen Matsch zu kämpfen hatte. Als Mitglied der Kaiserlichen Garde war er privilegiert, ragte aus der Masse heraus. Er saß hoch zu Ross, dem er die Sporen geben, so der klirrenden Kälte rasch entfliehen und in seine Garnison eilen konnte, wo auf ihn, davon ist auszugehen, zumindest ein wärmender Ofen, Speis und Trank warteten. Zudem befand sich diese Garnison nicht Meilen entfernt vom Ort des barmherzigen Geschehens, Martin musste also nicht spärlich bekleidet mit seinem Pferd, den schneidenden Winterstürmen trotzend, durch die verschneite Landschaft Nordgalliens reiten. Nein: Die Szene spielte sich am Stadttor von Amiens ab, also gerade mal einen Steinwurf vom wärmenden Ofen entfernt.

Was tat nun dieser römische Militär, der praktisch vor seiner eigenen Haustür diesem Mann begegnete, der, seltsam genug, im tiefsten Winter nicht, wie man es bei einem armen, bedürftigen Menschen hätte erwarten können, in viel zu dünner, ungeeigneter Kleidung vor der Toren sitzt, sondern nackt? Er tut nicht das, was von einem Heiligen zu erwarten gewesen wäre: Er steigt nicht ab, um sich um ihn zu kümmern. Er lädt ihn nicht zu sich ein, um sich aufzuwärmen. Er bietet ihm keine wärmende Suppe an. Er bedeckt ihn nicht mit seinem Umhang. Nichts dergleichen. Das einzige, was ihm einfällt, ist, seinen Umhang zu zerteilen und dem armen Mann die Hälfte der zerschnittenen und damit eigentlich zerstörten Mantels zu geben. Was, und das wird in dieser herzzerreißenden Geschichte immer gerne unterschlagen, vice versa bedeutet: Er behält die andere Hälfte für sich.

Was hat die Menschen bloß dazu gebracht, diesen zwar mitfühlenden, aber ganz und gar nicht selbstlosen Soldaten zum Sinnbild des barmherzigen Samariters zu erheben und als Schutzheiligen der Reisenden und der Armen und Bettler sowie der Reiter, Flüchtlinge, Gefangenen und Soldaten zu verehren?