Kunst
– ein Konstrukt der Rückprojektion?
1.
Eine etwas ketzerische Frage
vielleicht. Aber eine, die angesichts unseres oftmals doch recht sorglosen
Umgangs mit dem Wort Kunst durchaus angebracht
erscheint: Wir verfügen in jeder
Epoche über jeweils episodal gewandelte Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf der Mikroebene des
individuellen Kunstschaffens als auch auf der Makroebene der sozialen Institutionen[1]. Eingedenk
dessen: Wie lässt sich, ausgehend von den gegenwärtigen Gebrauchsweisen des
Wortes Kunst, über Kunst reden, die
der Vergangenheit angehört? Handelt es sich bei unserer heutigen Rede über dieses
Phänomen, über diese Artefakte und kreativen Entäußerungen nicht um die Art von
„Rekonstruktionen (…), die eine spätere Denkfigur in die Vergangenheit rückprojizieren[2]“
(Majetschak
42016: 11)? Reden wir also von
Artefakten und kreativen Entäußerungen in der Vergangenheit nicht stets von Kunst
auf Basis aktueller episodaler Gebrauchsweisen
dieses Wortes, nicht aber auf Basis ehemals
aktueller episodaler Gebrauchsweisen? Das hieße – unum nomen, unum nominatum –, wir würden für dieses Phänomen ebenso
wie für die Artefakte und kreativen Entäußerungen aller Zeiten (und auch für
die aller Kulturen in der Synchronie und Diachronie) nicht nur das gleiche Wort
Kunst verwenden, wir würden auf sie
auch den durch die aktuelle Gebrauchsweise der Wortes Kunst generierten Begriff ‚Kunst‘ anwenden. Und so eine Kontinuität
dessen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte suggerieren, was wir, die wir in
der abendländischen Tradition des Wortes Kunst
und des Begriffs ‚Kunst‘ sozialisiert wurden, heute gleichschaltend unbefangen Kunst nennen[3].
Aber
können wir uns überhaupt von unserer jeweiligen sprachlichen Sozialisation so
weit lösen, dass wir imstande sind, vergangene
episodale Gebrauchsweisen des Wortes Kunst
resp. die entsprechend daraus generierten Begriffe ‚Kunst‘ ‚objektiv‘ zu rekonstruieren?
Und falls wir dazu in der Lage wären: Auf welcher medialen Basis würde die
Rekonstruktion dieser vergangenen episodalen Gebrauchsweisen erfolgen? Zwar
verfügen wir über schriftliche Zeugnisse historischer Texte, den überwiegenden
Teil unseres täglichen Sprachgebrauchs machen jedoch seit jeher mündliche Äußerungen aus. Von diesen
ungezählten Äußerungen, Gesprächen und Diskursen, in denen die Bedeutungen der
Worte im Gebrauch generiert, etabliert und gewandelt wurden, existiert aber aus
naheliegenden Gründen so gut wie kein O-Ton – geeignete technische Geräte, die
authentische Aufzeichnungen ermöglicht hätten, sind erst seit Ende der 1920er
Jahre auf dem Markt.
Und wer ist überhaupt dieses ‚wir‘,
das hier über Kunst redet? Bei etwas genauerer Betrachtung erkennt man schnell,
dass seine Verwendung eine höchst problematische Vereinfachung des Sachverhalts
darstellt. Handelt es sich doch bei dem ‚wir‘ nicht um ein kollektives
Handlungssubjekt, sondern vielmehr um selbsttätig handelnde Mitglieder einer
Sprachgemeinschaft, die gleichzeitig Mitglieder bei einer unüberschaubaren Anzahl
von Gruppen mit zum Teil inkonsistenten Ansichten bei bisweilen disjunktiven Mitgliedschaften
sind – Person A kann Mitglied der Gruppe C oder D, aber auch Mitglied beider
Gruppen sein. So haben wir zum Beispiel neben der Gruppe C: ‚Kunsthandel‘[4]
auch
eine Gruppe D: ‚Kunstexperten‘ (die ja alles andere als homogen ist). Darüber
hinaus gibt es zudem noch die Gruppe E: ‚Kunstinteressierte‘ und die Gruppe F: ‚Desinteressierte‘
(die trotz ihres Desinteresses dennoch ihren Beitrag zur Bedeutungsetablierung
und -wandlung des Wortes Kunst leistet:
‚Ist das Kunst oder kann das weg?‘), die Gruppe G: ‚die nur an bestimmten
Kunstgattungen Interessierten‘ sowie die Gruppe H: ‚in anderen Kulturen als der
abendländischen sozialisierten Kunstinteressierten‘. Um nur einige der Gruppen zu
nennen, in denen deren Mitglieder durch ihre gleichgerichteten Handlungen ihren
zwar intentional motivierten, nicht jedoch intendierten Beitrag zur Etablierung
der verschiedenen Begriffe ‚Kunst‘ leisten.
2.
Die Etablierung jeder spezifischen
Gebrauchsweise des Wortes Kunst (d.h.
in letzter Konsequenz: der episodalen konventionellen Bedeutung) und die damit
verbundene Generierung der jeweiligen Begriffe ‚Kunst‘ wie auch deren Gebrauchs-
resp. Bedeutungs- und Verständniswandel einerseits sowie andererseits die in
einer Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein akzeptierte
Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk lassen sich, wie letztlich alle
soziokulturellen Prozesse, als Wirken der unsichtbaren Hand[5]
beschreiben.
Resultate dieser Prozesse sind Phänomene, „which are indeed the results of
human action, but not the execution of any human design“ (Adam Ferguson 1767:
187; zitiert nach: Keller 2014: 85). Am Beispiel der Entstehung eines
Trampelpfads erläutert der Düsseldorfer Linguist Rudi Keller dieses Wirken auf
so simple wie eingängige Weise (ebd.: 100ff.):
A
ist in Eile, er hat mit B einen Termin. Er stellt seinen Wagen auf dem
Parkplatz der Universität ab und geht, da er pünktlich sein will, auf dem
kürzesten Weg zu B. Dieser führt ihn quer über eine Rasenfläche. So wie A geht
es an diesem Tag und vielen weiteren Tagen auch An. Was wird
passieren? Geht A über den Rasen, werden bestenfalls ein paar Grashalme
geknickt. Geht An über den Rasen, so entsteht ein Trampelpfad:
ein kollektives Phänomen. Denn A wie auch An intendieren zwar
erstens, B zu erreichen und das, zweitens, pünktlich. Aber niemand von ihnen wird
ernsthaft intendieren, einen Trampelpfad anzulegen. Der Trampelpfad gehört also
nicht „zu den Intentionen der
einzelnen Handelnden“ (ebd.: 90). Er ist aber das kollektive, nicht intendierte
Resultat intentional zumindest partiell gleichgerichteter individueller
Handlungen: als Epiphänomen eine „kausale Konsequenz […] der Ergebnisse der sie
erzeugenden Handlungen“ (ebd.: 92).
Nun lässt sich am Beispiel des
Trampelpfads strukturell aber nicht nur aufzeigen, wie Einzelne im Kollektiv Bedeutungen nicht-intendiert wandeln oder die
Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk bewerkstelligen können. Mit einer
kleinen Ergänzung lässt sich auch beschreiben, wie bestimmte Gruppen (zum Beispiel: ‚Kunstmarkt‘ oder
‚Kunstexperten‘) in analoger Weise Bedeutungen wandeln oder die Zuschreibung
eines Werks als Kunstwerk bewerkstelligen können, ohne dass diese Resultate Ergebnis
zielgerichteter Intentionen einzelner Mitglieder dieser Gruppe oder einer wie
auch immer gearteten kollektiven Vereinbarung der Gruppe als Ganzes sind:
Ein
Reisebus mit rund 80 Personen, Gruppe ‚Kunstmarkt‘, kollektiv bezeichnet als C,
fährt auf den Busbereich am anderen Ende des Universitätsparkplatzes. Sie sind
spät dran. Kaum öffnen sich die Türen, strömt deshalb auch schon C hinaus, um
schnellstmöglich zu B zu gelangen. Dabei nimmt C im Kollektiv natürlich auch den
kürzesten Weg quer über den Rasen. So geht das tagein, tagaus. Immer das
gleiche Schauspiel. Das nicht intendierte kollektive Resultat ihrer
gleichgerichteten individuellen intentionalen Handlungen gleicht nun in
verblüffender Weise dem der gleichgerichteten intentionalen Handlungen von An
– auch hier entsteht ein Trampelpfad Richtung B. Allerdings an anderer Stelle.
Und ein dritter als ebenfalls nicht intendiertes kollektives Resultat durch die
Insassen des zweiten Busses, der Gruppe D: ‚Kunstexperten‘, die, da auch sie spät
dran ist, ebenfalls auf dem kürzesten Weg zu B zu gelangen sucht. Am Ende
lassen sich aus der Vogelperspektive drei wunderschöne Epiphänomene, sprich: Trampelpfade,
ausmachen: Sie treffen sich alle in B, wobei B in diesem Fall den gleichlautenden
Signifikanten [Kunst] darstellt, hinter dem jeweils ein anderer Begriff ‚Kunst‘ steckt (es gilt eben nicht: unum nomen, unum nominatum).
Damit wurden wir Zeuge der Etablierung
dreier verschiedener Gebrauchsweisen des Wortes Kunst (hier bezogen auf die Ebene: das konkrete Werk [Oehm 2019a:
10]), die mit ihrer Etablierung ihrerseits drei gruppenspezifische Begriffe
‚Kunst‘ generieren, denen womöglich drei verschiedene Begriffstypen[6] entsprechen. Leider
stellt sich aber der tatsächliche Sachverhalt noch um einiges komplexer dar. Um
ihn präzise zu beschreiben, kommt man nicht umhin, das eingängige Bild des
Trampelpfads ein wenig zu überfordern: An ist ja nicht nur jeder
beliebige Einzelne, er ist als solcher immer auch Gruppenmitglied. Genauer
gesagt: Er kann gleichzeitig Mitglied verschiedener Gruppen sein. So von C oder
D oder beider Gruppen (inklusives Oder: Ich kann gleichzeitig Mitglied der
Gruppe C: ‚Kunsthandel‘ und Gruppe D: ‚Kunstexperten‘ sein). Zudem kann An
entweder Mitglied der Gruppe E oder aber der Gruppe F sein (exklusives Oder: Ich
kann nicht gleichzeitig Mitglied der
Gruppe E: ‚Kunstinteressierte‘ und Gruppe F: ‚Desinteressierte‘ sein). Und um
dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen: In
toto leistet An durch seinen je nicht-intendierten individuellen
Beitrag zur Entwicklung jeweiliger gruppenspezifischer Begriffe ‚Kunst‘ gleichzeitig auch einen ebenso wenig intendierten
individuellen Beitrag zur Entwicklung des innerhalb einer Sprachgemeinschaft allgemein akzeptierten Begriffs ‚Kunst‘.
Dieser sollte, um verständnissichernde Kraft zu besitzen, über einen gewissen Zeitraum[7]
Bestand
haben. Um die Sache noch realitätsnäher zu gestalten, ließe sich die Anzahl der
Reisebusse, das heißt: der an der Etablierung der Begriffe ‚Kunst‘ und damit
auch des vieldiskutierten, aber recht undifferenziert gebrauchten Kunstbegriffs[8]
beteiligten
Gruppen wie auch die der Parkplätze ins Unendliche erweitern – und damit auch
die der Trampelpfade[9],
die
sich alle in B treffen. Doch davon wollen wir an dieser Stelle,
eingedenk der „Hypermaxime unseres Kommunizierens (…) Rede so, dass du die
Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten
erreichst“ (Keller 2014: 142), absehen, um unsere Chance auf eine erfolgreiche
Kommunikation zu wahren.
Wir haben nun grob den Prozess skizziert,
wie sich aktuelle episodale[10]
Gebrauchsweisen
der Worte, so auch die des Wortes Kunst,
etablieren (und wie sich vergangene etabliert haben und kommende etablieren
werden). Folgende Thesen lassen sich nun heuristisch für die weitere Analyse festhalten:
1. Die
Gebrauchsweisen der Worte, so auch die des Wortes Kunst, etablieren sich in einem kollektiven, kausalen, nicht
intendierten, nicht zielgerichteten und potentiell endlosen Prozess als das
Ergebnis millionenfacher zumindest partiell gleichgerichteter individueller
intentionaler Handlungen (‚invisible hand process‘). Es ist ein Prozess, der
strukturell zwar einen Anfang, aber, solange es Sprecher natürlicher Sprachen
gibt, kein Ende kennt.
2. Diese
Gebrauchsweisen stellen keine fixierten Endprodukte dar, ihr Seinszustand ist
der einer flüchtigen Episode (auf der synchronen Zeitachse) in einem zeitlichen
Kontinuum (der diachronen Zeitachse): Jede Gebrauchsweise ist eine episodale Gebrauchsweise.
3. Es werden global
asynchron unzählige Gebrauchsweisen neu etabliert und gewandelt. Und was
aktuell der Fall ist, war nach menschlichem Ermessen auch in der Vergangenheit
der Fall (und wird in der Zukunft ebenso der Fall sein).
4. Wir sprechen von
Kunst jeweils auf Basis aktuell etablierter und akzeptierter episodaler
Gebrauchsweisen dieses Wortes innerhalb einer Sprachgemeinschaft.
5. Es gibt darüber
hinaus eine nicht zu beziffernde Anzahl aktueller gruppenspezifischer episodaler
Gebrauchsweisen dieses Wortes.
6. Bei jeder
singulären Gebrauchsweise, unabhängig davon, ob sie in einer Regularität der
Gebrauchsweise oder gar in einer Gebrauchsregel und damit in einer etablierten
resp. konventionellen Bedeutung mündet, handelt es sich um eine episodale
Gebrauchsweise (um Sprecher-Intentionen
und Sprecher-Bedeutungen, davon wird noch zu sprechen sein) – damit erhöhen die
singulären Gebrauchsweisen die Anzahl aktueller Gebrauchsweisen noch einmal
dramatisch.
7. Jede etablierte
episodale Gebrauchsweise (innerhalb einer
Gruppe/Sprachgemeinschaft/Kultur/Epoche) besitzt nur eine beschränkte ‚diachronische
Identität‘. Bei ihr handelt es sich um eine verständnissichernde Kraft, die über
einen Zeitraum x Bestand hat – was heute noch etabliert ist, kann sich morgen
bereits grundlegend gewandelt haben.
8. In die
Etablierung episodaler
Gebrauchsweisen fließen Formen mündlicher Äußerungen ebenso ein wie Formen
schriftlicher Äußerungen.
9. Mündliche
Äußerungen machen den überwiegenden Teil der Komprehension unseres Sprachgebrauchs, also die Menge des vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Sprachgebrauchs, aus.
10. Vergangene schriftliche
Äußerungen, die sowohl ehemals etablierte wie auch vermutete singuläre episodale
Gebrauchsweisen dokumentieren, liegen vor. Nun werden aber auf
der Mikroebene der individuellen Handlungsweisen die Gebrauchsregularien der
Worte konstituiert und als Gebrauchsregeln der Worte etabliert. Als kollektives
Resultat der individuellen Handlungen sind sie die Bedeutung der Worte und „erzeugen
die Kategorien, nach denen wir unsere Welt klassifizieren“ (Keller 2014: 127).
Diese von den Gebrauchsregeln erzeugten kollektiven Konsequenzen sind die
Kategorien resp. die Begriffe. Im Zuge unseres Spracherwerbs und unserer
aktiven Teilnahme an den jeweils aktuellen Sprachspielen einer
Sprachgemeinschaft werden wir in die Sprache dieser Gemeinschaft, die
Makroebene sozialer Institutionen, eingebunden. Dabei übernehmen wir mit den
sprachlich etablierten Klassifizierungen (die wir unsererseits durch unsere
fortgesetzte Teilnahme an eben diesem kulturellen Prozess beständig sowohl
perpetuieren als auch wandeln) ein ‚kollektives Wissen‘. So auch das kollektive
Wissen um das jeweilige episodale sprachliche Ereignis soziokultureller Evolution
namens ‚Kunst‘. Da wir aber nun mal sprachlich nicht in einer fernen
Vergangenheit, sondern in der Gegenwart sozialisiert wurden, vermögen wir auch nicht
zu sagen, ob es zwischen dem vergangenen kollektiven Wissen und dem heutigen
eine Schnittmenge gibt und wenn es sie gäbe, wie groß sie wäre. Mangels
sprachlicher Sozialisation in jenen Epochen besitzen wir weder ein internalisiertes
Wissen um den episodalen Gebrauch etablierter und konventioneller Bedeutungen vergangener
Äußerungen noch ein Wissen um vergangene singuläre Gebrauchsweisen[11]. Können aber unter diesen
Voraussetzungen aus schriftlichen Zeugnissen etablierte und konventionelle
Bedeutungen vergangener Äußerungen oder gar singuläre Gebrauchsweisen rekonstruiert
werden oder handelt es sich bei solchen Rekonstruktionen stets um Konstrukte?
Gar um solche, bei denen wir eine ‚spätere Denkfigur in die Vergangenheit
rückprojizieren‘ (Majetschak)?
11. Vergangene mündliche
Äußerungen, die ehemals etablierte und auch singuläre episodale Gebrauchsweisen
dokumentieren würden, liegen frühestens seit Ende der 1920er Jahre in Form
authentischer Aufzeichnungen vor. Zuvor sind sie lediglich sporadisch als schriftliche Zeugnisse[12]
dokumentiert.
Damit entzieht sich, bis auf einige wenige Ausnahmen, der weit überwiegende
Teil aller vergangener Äußerungen wie auch etwaige ‚Zwischenresultate‘
vergangener Prozesse sowohl der Bedeutungsetablierung als auch des
Bedeutungswandels vollständig und grundsätzlich unserer Kenntnisnahme und
Erkenntnis. Und da es in absehbarer
Zeit niemanden mehr geben wird, der vor Ende der 1920er Jahre in seiner jeweiligen
Sprachgemeinschaft sozialisiert wurde, wird es dann auch keine gesicherte
Auskunft mehr über vergangene Gebrauchsweisen aus dieser Zeit geben können, bleibt
uns doch die Chance auf intersubjektive Vergewisserung und damit Verifizierung verwehrt.
Gesicherte Aussagen über vergangene Sprecher-Intentionen sind zukünftig kaum mehr
möglich, jede Aussage darüber käme aus prinzipiellen Gründen nicht mehr über
den Status einer Hypothese hinaus (dabei ist aber das Erkennen der Sprecher-Intentionen
die Bedingung der Möglichkeit der Einsicht in das, was jemand meint, wenn er
etwas sagt – darauf werden wir in den nächsten Kapitel näher eingehen).
3.
Soziokulturelle Phänomene zeichnen
sich dadurch aus, dass sie nicht sind, sondern werden. Und dass sie nicht so
bleiben, wie sie werden, sondern sich stets wandeln. Das ist bei Systemen und
Strukturen nicht anders als bei Bedeutungen von Worten. Alles hat einen strukturellen
Anfang – und der „Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen“
(Keller 2014: 164). „Jede andere
Strategie“, so der Linguist Frank Liedtke, „wäre hoffnungslos zirkulär“
(Liedtke 2016: 43).
Die Etablierung der Bedeutung der
Worte, das heißt: ihrer Gebrauchsweisen, sowie der stete Wandel dieser Gebrauchsweisen[13] und damit eben
auch die des Wortes Kunst[14], „entsteht letztlich aus singulären
sprachlichen Äußerungen und ihrer Intentionszuschreibung“ (ebd.: 41). Dem liegt
ein Kooperationsmodell sozialer Interaktion zugrunde, in dem der Anthropologe
und Verhaltensforscher Michael Tomasello gar den Ursprung menschlicher Kommunikation
sieht: „Menschen kooperieren
miteinander auf eine Weise, die wir von keiner anderen Spezies kennen, wobei
diese Kooperation Prozesse geteilter Intentionalität beinhaltet“ (Tomasello 2017:
24). Es sind daran also immer Sprechende beteiligt, die
bestimmte Intentionen haben, sowie Mitsprechende, die diesen
Äußerungen in aktuellen Situationen bestimmte Intentionen
zuschreiben. Aus dem millionenfachen Vollzug derartiger
Sprachhandlungen
ergeben sich wie gesehen nicht-intendierte, nicht-vorsätzliche, kollektive
kausale Resultate, idealiter die konventionellen Bedeutungen. Und, in letzter
Konsequenz, „allmählich eine Einzelsprache als Durchschnitt der Verwendungen
vieler Sprecher“ (Liedtke 2016: 41).
Der britische Sprachphilosoph H.
Paul Grice hat für den ersten und damit entscheidenden Schritt der
Bedeutungsgenese innerhalb einer Sprachgemeinschaft von der singulären
Situationsbedeutung hin zur konventionellen Bedeutung ein solches idealtypisches
Kooperationsmodell sozialer Interaktion entwickelt, das seinen Anfang beim
handelnden Individuum nimmt. Es beschreibt, wie sich die Bedeutung einer
Äußerung explizieren lässt, wenn das, was der Sprecher mit ihr meint, vom
Angesprochenen nicht schon durch den Rückgriff auf den
konventionellen Sprachgebrauch, sondern erst im Rahmen einer dialogisch strukturierten Situation durch
das Erkennen der „reflexive(n)
Intention“ (Liedtke 2016: 37) verständlich ist:
i.
Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung x beabsichtige.
ii.
Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst.
iii.
Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung x beabsichtige,
indem du meine Intention (ii.) erkennst.
Um die kommunikative Intention (die
Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, sowie die intendierte
Wirkung (die Sprecher-Bedeutung) verstehen zu können, muss der Angesprochene
eine interpretative Leistung erbringen und über relevantes Kontextwissen
verfügen. Zu letzterem gehört unter anderem das Wissen um „kulturelle Praktiken,
außerdem Einschätzungen der aktuellen Situation und schließlich das, was im
Diskurs vorher gesagt oder im Text vorher geschrieben wurde“ (Liedtke 2016:
38). Ob jedoch die Interpretation des Gemeinten durch den Angesprochenen mit
der vom Sprecher intendierten Interpretation übereinstimmt, kann „nur wechselseitig
unterstellt werden“ (ebd.: 40). In einer dialogisch konzipierten, kooperativen
Gesprächssituation kann der Angesprochene unter anderem durch Nachfrage
versuchen, seine unterstellte Interpretation zu verifizieren. Bei der Lektüre eines Textes[15]
gestaltet
sich dieses Vorhaben schon schwieriger. Angenommen, den Aussagen resp. den darin
gebrauchten Worten, so dem Begriff ‚Kunst‘, wäre nicht durch Rückgriff
auf den konventionellen
Sprachgebrauch[16] beizukommen,
da es sich um eine singuläre Sprecher-Bedeutung handelt: Wie kann der Leser feststellen,
ob der Autor und er „übereinstimmende Interpretationen der Situation haben oder
nicht“ (ebd.: 40), wenn es sich aus dem Kontext nicht eindeutig erschließen
lässt, was der Autor gemeint resp. intendiert hat? Handelt es sich um den Text
eines lebenden Autors, so hat er zumindest die theoretische Chance einer
Kontaktaufnahme zum klärenden Dialog und einer damit verbundenen Vergewisserung
und Verifizierung. Was aber, wenn es sich um einen Text handelt, bei dem der
Interpret weder auf eine übergreifende verständnissichernde ‚diachronische
Identität‘ (Keller) aktueller konventioneller Bedeutung zurückgreifen kann noch
imstande ist, seine Hypothesen zur Sprecher-Intention resp. Sprecher-Bedeutung im
direkten Austausch zu verifizieren, da der Autor längst verstorben ist?
4.
Erkenntnisfördernd
mag an dieser Stelle ein Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin, sei
es nun die der Kunstphilosophie, Kunstgeschichte oder Kunstkritik, hinaus auf einen
Fachbereich sein, der sich mit ganz ähnlichen Fragestellungen und Problemlagen konfrontiert
sieht: den der Geschichtswissenschaft. Hier provozierte 1969 ein junger
britischer Historiker und Politikwissenschaftler, Quentin Skinner, die Granden seines
Fachs mit einem Aufsatz, der ihn à la longue zum Spiritus rector der ‚Cambridge
School‘ der Ideengeschichte machte: ‚Meaning and Understanding
in the History of Ideas‘. Mit ihm initiierte er eine Grundlagendebatte, die im
Grunde bis heute andauert. Skinner verwies, so der deutsche
Historiker und Politikwissenschaftler Alexander Gallus in einem Beitrag für die
FAZ, „(v)ier gängige Prämissen der
Ideengeschichte (…) in seinem methodologischen Schlüsseltext ins Reich der
Mythologien“ (Gallus 2019: o.S.):
• „Die ‚mythology
of doctrines‘ projiziere Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurück und
erzeuge Anachronismen. Noch schlimmer ist es, wenn der Historiker gleich von zeitlosen
Fragen und Werten ausgeht (‚perennialism‘)“.
•
Die „mythology of coherence“ verführe dazu, „aus
verstreuten Bemerkungen politischer Denker eine logisch geschlossene Theorie zu
formen, mithin einen ebenso widersprüchlichen wie wandlungsreichen Denkprozess
in ein Schema zu pressen“.
•
Zwei weitere Denkfehler, die „mythology of prolepsis“
und die der „parochialism“, zielen „auf die Konstruktion von historischer
Kontinuität (…). Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher
Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem
(…) schraffiert“ (alle Zitate: Gallus 2019: o.S.).
Wie lassen sich nun, will man
Aussagen und Wortbedeutungen eines historischen Textes verstehen, solche
Denkfehler vermeiden? Und angenommen, man wäre in der Lage, solche Denkfehler zu
vermeiden: Lassen sich Aussagen und Wortbedeutungen eines historischen Textes angemessen
verstehen? Die Antwort der postmodernen Textkritik auf diese Frage, namentlich von
Jacques Derrida, ist unmissverständlich: Eine gültige Interpretation eines Textes, also die verifizierte
Feststellung der „vom Autor intendierte(n) Bedeutung eines Textes“ (Skinner
2009a: 7), kann es nicht geben. Schlösse man sich nun dieser Auffassung zur
Gänze an, so Skinner in seinem Aufsatz ‚Über Interpretation‘, hieße das in der
Konsequenz, dass „das hermeneutische Ziel der Bedeutungsexplikation, hier
verstanden als Feststellung der auktorialen Intention“ (ebd.: 8), aufgegeben
werden muss. Zwar ist auch er der Ansicht, dass die auktorialen
Mitteilungsabsichten „rein mentale Eigenschaften (…) und als solche dem Textinterpreten unzugänglich“[17]
(ebd.:
15) seien, auf sie als das hermeneutische Ziel verzichten will er aber nicht. Ganz
im Gegenteil. Er betont ausdrücklich, dass „die Bestimmung der auktorialen
Intention zum Kern der hermeneutischen Aufgabe“ (ebd.: 17) gehöre. Der Leser
stutzt, klingt dies doch für seine Ohren im ersten Moment verdächtig nach einer
contradictio in adiecto. Eine
unzugängliche Intention soll Kern der hermeneutischen Aufgabe sein? Einen ersten
Hinweis auf einen Ausweg aus dieser vermeintlichen Widersprüchlichkeit gibt
Skinners recht drastische Feststellung, dass eine genauere Bestimmung der
beiden grundlegenden Begriffe ‚Bedeutung‘ und ‚Intentionalität‘ dringend
erforderlich sei, werden sie doch „von den verschiedenen Fraktionen[18]
in
dieser Debatte mit fast schon verbrecherischer Ungenauigkeit benutzt“ (ebd.:
8).
Um
nun eine entmythologisierte Ideengeschichtsschreibung betreiben zu können, galt
es für Skinner, diese Ungenauigkeit zu korrigieren: „Unter Rückgriff auf die
philosophische Theorie des Sprechakts entfaltete Skinner die Grundauffassung,
dass die Texte politischer Theoretiker in spezifischen Konstellationen
entstanden und zu würdigen seien. Es genüge nicht, die bloßen Aussagen oder
Wortbedeutungen eines einzelnen Textes zu verstehen. Vielmehr gelte es, seine
Intention und Kraft
(‚force‘)[19]
zu
ermitteln, die er in einer Situation des politischen Deutungskampfes als
Beitrag zu spezifischen Fragen und angesichts damals geltender Konventionen des
Sagbaren hatte oder haben wollte“ (Gallus 2019: o.S.).
Texte
sind demnach nicht zu verstehen, wenn man sie rein auf ihre semantische Ebene
reduziert, werden sprachliche Äußerungen doch de facto immer auf der
pragmatischen Ebene geäußert: Sie sind stets in Kontexte und
Handlungszusammenhänge eingebunden, besitzen stets eine auktorial-intentionale Handlungskomponente
und sind somit nie unabhängig von ihr zu verstehen. Sieht man davon ab, so ist
es vielleicht ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis. Nur muss man sich
dessen stets bewusst sein, dass es sich dann bei dem, worüber man spricht, um
ein hypothetisches Konstrukt handelt, das nicht mit der realen Faktenlage
verwechselt werden darf. „Wir müssen also nicht nur erfassen, was die Menschen
sagen“, so paraphrasiert Gallus eine zentrale These Skinners, „sondern auch,
was sie tun, indem sie es sagen“ (ebd.: 2019). Das heißt: „Um eine
ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bedeutung des
Gesagten erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die
Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54). Also das, „was die Autoren damit
gemeint haben“ (ebd.: 55). Allerdings reicht es nicht aus, nur den unmittelbaren
Kontext zu untersuchen. „Vielmehr müssen wir all die unterschiedlichen Kontexte
untersuchen, in denen diese Wörter verwendet wurden – all die Funktionen, die diese Wörter haben
können, all die unterschiedlichen Dinge, die man mit ihnen tun kann“ (ebd.: 57,
Hervorhebung S.O.). Dabei wird man letztlich erkennen, so Skinner, dass es
keine „‚überzeitlichen Weisheiten‘ in Gestalt ‚universaler Ideen‘“ (ebd.: 21)
sind, die von klassischen Texten vermittelt werden. In ihnen gibt es keine
„Elementarideen“ (ebd.: 59) aufzuspüren, die von zentralen Begriffen getragen
werden. Es gibt „lediglich eine Vielzahl von Aussagen von einer Vielzahl
verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten“ (ebd.: 58)
und damit auch „nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Verwendungsweisen und
der verschiedenen hinter ihnen stehenden Absichten“ (ebd.: 58).
Ob
es nun um die Frage der Gerechtigkeit geht, die Skinner als Beispiel dient,
oder aber um die der Kunst: Jeder, der sich als reflektierter Mensch mit einer
Frage beschäftigt, beantwortet sie nicht nur auf seine je eigene Weise – es
„werden auch die in der Formulierung der Frage verwendeten Wörter (…) in den
verschiedenen Theorien, wenn überhaupt, dann in so unterschiedlichen Weisen
verwendet, daß es offensichtlich ein Zeichen von Verwirrung ist, wenn man
meint, irgendwelche stabilen Begriffe thematisieren zu können“ (Skinner 2009b: 59).
Wer also einen historischen Text und seine zentralen Begriffe, in unserem Fall
den Begriff ‚Kunst‘, verstehen will, muss „sowohl die Absicht verstehen, die
verstanden werden sollte, als auch die Absicht, daß diese Absicht verstanden
werden sollte, die der Text (und mit ihm die zentralen Begriffe, S.O.) als
intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muß“ (ebd.: 60). Also das, was die
jeweiligen Autoren „zu jener Zeit, in der sie für eine spezifische Leserschaft
geschrieben haben (…) tatsächlich mit ihren Äußerungen mitzuteilen beabsichtigt
haben“ (ebd.: 60).
Es
ist nicht zuletzt dieser Mythos von den „zeitlosen Fragestellungen“ (ebd.: 61)
und „‚zeitlosen‘ Wahrheiten“ (ebd.: 63), der selbst ausgewiesene Koryphäen der
jeweiligen Fachgebiete dazu verführt zu glauben, es gäbe eine Kontinuität in
der Verwendungsweise bestimmter Aussagen. Aber „Aussagen verkörpern immer eine bestimmte
Absicht zu einem bestimmten Anlaß und sollen der Lösung eines bestimmten
Problems dienen“ (ebd.: 62). Will man sie also im Rahmen der interpretativen Möglichkeiten
angemessen verstehen, muss versucht werden, sie eingebettet in die je
spezifische Kontextualität in der jeweiligen Synchronie[20]
zu
betrachten. Wer hingegen diese vergangenen Aussagen in der Rückprojektion einer
Denkfigur wie die des aktuellen Begriffs ‚Kunst‘ betrachtet, erhält als
Resultat nur ein konstruiertes Konstrukt
– ein Kontinuität suggerierendes Trugbild, das mit dem, was die Autoren mit ihren
Aussagen tatsächlich gemeint haben, indem
sie sie geäußert haben, kaum mehr zu tun haben dürfte als nur das Wort Kunst.
5.
Was
will Skinner verstehen, wenn er vergangene Äußerungen resp. den historischen
Text eines Autors verstehen will? Rufen wir uns zur Beantwortung dieser Frage eine
seiner zentralen Aussagen in Erinnerung:
„Um eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen,
müssen wir nicht nur die Bedeutung des
Gesagten erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner
2009b: 54, Hervorhebungen S.O.).
Die
‚Bedeutung des Gesagten‘ ist die „Bedeutung der Äußerung selbst“ (Skinner
2009c: 73), die Skinner von dem differenziert, was jemand mit eben dieser
Äußerung meint oder beabsichtigt. Nun gilt es aber zu
beachten, dass das Gesagte nicht einfach eine Bedeutung hat so wie etwa die
Bierflasche ein Etikett. Vielmehr geht, wie wir gesehen haben (cf. Kap. 3.),
die Entwicklung der etablierten resp. konventionellen Bedeutung strukturell immer
von „singulären sprachlichen Äußerungen und ihrer Intentionszuschreibung (aus)“
(Liedtke 2016: 41). Das heißt, „Ausgangspunkt der Erklärung
sind handelnde Individuen“ (Keller 2014: 164), deren
Gebrauchsweisen von Worten oder Äußerungen sich zu individuellen Regularitäten
entwickeln können. Diese können im
weiteren Verlauf sogar, falls sie in einer Peergroup oder, im größeren Maßstab,
in einer Sprachgemeinschaft auf breite Akzeptanz treffen, zu allgemeinen Regeln
des Gebrauchs werden. Mit anderen Worten: Der Prozess beschreibt eine Möglichkeit.
Singuläre Gebrauchsweisen können zur konventionellen Bedeutung werden, müssen
es aber nicht. Bei der Bedeutung des Gesagten kann es sich also um eine etablierte
oder konventionelle Bedeutung, ebenso gut aber auch um eine singuläre Sprecher-Bedeutung
handeln, die nur in diesem einen Fall besteht.
Nun stehen aber, wie gesehen, singuläre sprachliche Äußerungen und ihre Intentionszuschreibungen am
Anfang des Prozesses der Bedeutungsetablierung. Dies führt uns zurück auf das
handlungstheoretische Modell von H. Paul Grice (cf. Kap. 3.) und damit zu einem
zweiten wichtigen Punkt, den es zu beachten gilt: Skinner identifiziert das,
„was die Autoren (…) gemeint haben“ (Skinner
2009b: 55), mit der ‚beabsichtigte(n) Kraft‘, mit der eine Äußerung gemacht
wurde. Bei Grice aber hatte sich gezeigt, dass das, was ein Autor mit einer
Äußerung meint, strukturell am Anfang
einer Bedeutungsetablierung steht. Die Vermutung liegt also nahe, dass es sich hier
um zwei verschiedene Gebrauchsweisen des Wortes meinen handelt:
a. meinenS im Sinne
Skinners:
Um eine Äußerung zu verstehen, muss sowohl die Bedeutung
des Gesagten erfasst werden als auch das, was der Sprecher mit eben dieser Äußerung
meintS.
b. meinenG im Sinne Grice‘:
Es gibt Fälle, in denen das, was der Sprecher mit der
Äußerung meintG, vom
Angesprochenen nicht schon durch den Rückgriff auf den
konventionellen Sprachgebrauch verstanden werden kann, sondern erst im Rahmen
einer dialogisch strukturierten Situation durch das Erkennen der „reflexive(n)
Intention“ (Liedtke 2016: 37). In diesen Fällen ginge es nicht um die Bedeutung
des Gesagten auf der einen Seite und auf der anderen Seite um das, was ich mit
der Äußerung meineS
– hier konstituiert vielmehr das, was der Sprecher mit der Äußerung meintG, die Bedeutung des
Gesagten:
i. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung x beabsichtige.
ii. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.)
erkennst.
iii. Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner
Äußerung x beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.
Zu wissen, was
jemand mit einer Äußerung meintG,
bedeutet demnach, die kommunikative Intention oder Sprecher-Intention zu
erkennen: Die Bedeutung des Gesagten ist in diesem Fall die Sprecher-Bedeutung,
die durch meinenG konstituiert
wurde (cf. Oehm 2019b: 35ff.). Der Angesprochene muss, um zu verstehen, eine
reflexiv interpretative Leistung erbringen – die Verständnisschnittmenge ist
nicht gegeben, sie muss erst erarbeitet werden. Handelt es sich bei der
Bedeutung des Gesagten hingegen um die konventionelle Bedeutung, so meintG ein Autor/Sprecher mit
der Äußerung nichts anderes als das, was er sagt. Vorausgesetzt, es besteht
zwischen Autor/Sprecher und Interpreten hinsichtlich
dieser konventionellen Bedeutung eine so große Verständnisschnittmenge, dass
ein ‚intuitives‘ Verstehen seitens des Interpreten gegeben ist, so ist nicht
nur keine reflexiv interpretative Leistung
erforderlich – es ist gar keine interpretative Leistung erforderlich.
Wie kann aber nun bei vergangenen Äußerungen die Sprecher-Bedeutung des Gesagten verstanden
werden? Wie kann der Interpret seine Interpretation der reflexiven Intention,
das heißt das, was der Autor/Sprecher gemeintG
hat, verbindlich verifizieren, wenn er verstorben ist (cf. Kap. 3.)? Und wie
kann ich bei vergangenen Äußerungen die
konventionelle Bedeutung des Gesagten gesichert verstehen, wenn es zwischen
Autor/Sprecher und Interpret keine nachprüfbar gesicherte
Verständnisschnittmenge, keine diachronische Identität gibt? Ganz zu schweigen
von dem „Überschuß an Bedeutung“ (Skinner 2009c: 76), von dem Skinner im
Anschluss an Paul Ricoeur spricht, also von all den „Anspielungen,
Assoziationen und unterschwelligen Anklänge(n), die ein einfallsreicher
Interpret in einem Text entdecken
könnte“[21]
(ebd.:
73).
Reden
wir nun aber von meinenS, so
steht die Bedeutung des Gesagten gar nicht zur Debatte. Weder im Sinne der
Sprecher-Bedeutung noch der konventionellen Bedeutung. Denn Skinner „geht es
nicht um Bedeutung, sondern um den Vollzug bzw. die Performance illokutionärer Akte[22]“
(Skinner
2009c: 73), um „die auktoriale Intentionalität“ (ebd.: 73). Die Frage, „was ein
Autor mit einer Äußerung gemeint oder beabsichtigt haben könnte“ (ebd.: 73),
ist für Skinner also keine Frage nach
der Bedeutung des Gesagten, sondern eine nach dem illokutionären Akt. Wenn er
jedoch gleichzeitig fordert, dass wir, um eine ernstgemeinte Äußerung verstehen
zu können, die Bedeutung des Gesagten erfassen müssen, kann er nicht einfach nonchalant davon ausgehen, dass die Bedeutung des Gesagten, ganz
egal, ob es sich nun um die Sprecher-Bedeutung oder die konventionelle
Bedeutung handelt, erfasst wird. Er muss vielmehr plausibel erklären, wie die Bedeutung des Gesagten im Falle längst vergangener Äußerungen
und Texte erfasst wird.
6.
In
Kap. 2. haben wir bei der Formulierung unserer heuristischen Thesen bereits einige
grundsätzliche Aspekte angesprochen, die der Möglichkeit eines gesicherten,
verifizierten Verstehens von Äußerungen und Texten entgegenstehen. Einige
weitere Aspekte im Hinblick auf die ‚Bedeutung des Gesagten‘ gilt es nun zu bedenken:
1. Werden Autor/Sprecher
und Interpret in einer Sprachgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit gemeinsam sozialisiert,
so internalisieren sie in der Regel die dann jeweils allgemein akzeptierten
Bedeutungen (‚Verständnisschnittmenge‘): Der Interpret ist imstande, die
konventionelle Bedeutung des Gesagten ‚intuitiv‘ zu verstehen. Er muss keine reflexive
Intention erkennen, um zu wissen, was mit der Äußerung in diesem Fall gemeintG ist.
2. Werden Autor/Sprecher
und Interpret in einer Sprachgemeinschaft zu verschiedenen Zeiten
(gegebenenfalls sogar in verschiedenen Epochen) sozialisiert, so gilt: Je
größer der zeitliche Abstand zwischen Äußerung und Rezeption, desto geringer
die diachronische Identität der Bedeutung, also der Verständnisschnittmenge des
Gesagten – und damit die Wahrscheinlichkeit, dass ein Interpret bei einer vergangenen
Äußerung die zum Zeitpunkt der Äußerung konventionelle Bedeutung des Gesagten
‚intuitiv‘ richtig versteht.
3. Werden
Autor/Sprecher und Interpret in verschiedenen Sprachgemeinschaften/Kulturen zur
gleichen Zeit sozialisiert, ist ein ‚intuitives‘ Verstehen der konventionellen
Bedeutung des Gesagten beim Interpreten wie in 1. nicht gegeben – es ist
bestenfalls nachträglich in begrenztem Maße ‚erlernbar‘.
4. Findet die
Sozialisation in verschiedenen Epochen und
in verschiedenen Sprachgemeinschaften/Kulturen statt, kann die konventionelle
Bedeutung einer vergangenen Äußerung nicht ‚intuitiv‘ verstanden werden (kann
sie überhaupt eruiert werden, damit sie verstanden werden kann?).
5.
Eine eher rhetorische Frage: Kann der Interpret verbindlich
feststellen, ob es sich im Hinblick auf vergangene Äußerungen bei der Bedeutung
des Gesagten um eine etablierte resp. konventionelle Bedeutung oder
doch eher um eine einmalige Sprecher-Bedeutung handelt?
6. Eine ebenso
rhetorische Frage: Kann der Interpret im Hinblick auf vergangene Äußerungen die
Bedeutung des Gesagten verbindlich verstehen, wenn es sich um
eine singuläre Sprecher-Bedeutung handelt?
7. Wer im Hinblick
auf vergangene Äußerungen die Bedeutung des Gesagten verstehen/eruieren will,
muss seine eigenen aktuellen Gebrauchsweisen der Begriffe im Detail kennen und sie
sich im Moment der Interpretation bewusst machen, damit er sie bei der
Interpretation vergangener Aussagen nicht auf eben diese Aussagen projiziert und
so eine Kontinuität konstruiert, die es nicht gibt – so zum Beispiel die des
Gebrauchs des Wortes Kunst auf allen
Ebenen und Achsen (cf. Oehm 2019a: 10, auch Oehm 2019b:
272).
Lassen
wir an dieser Stelle einmal diese grundsätzlichen Probleme beiseite, die sich
bei der Frage nach der ‚Bedeutung des Gesagten‘ und der Möglichkeit, sie zu erfassen,
ergeben. Denn „(u)m eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir (ja) nicht
nur die Bedeutung des Gesagten
erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte
Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54,
Hervorhebungen S.O.). Also das, was ein Autor mit ihr gemeintS hat. meinenS
identifiziert Skinner nun mit der auktorialen
Intentionalität alias: der ‚beabsichtigten
Kraft‘. Den Terminus ‚Kraft‘ entlehnt er bei dem englischen
Sprachphilosophen John L. Austin, der ihn in seiner ‚Zur Theorie der
Sprechakte‘ einführte. Austin unterscheidet dort den lokutionären Akt (den eigentlichen Akt des Äußerns) vom illokutionären Akt (dem konventionellen
Zweck der Sprachhandlung: Befehl, Aufforderung, Behauptung, Verbot etc.) und
diesen wiederum vom perlokutionären
Akt. Letztere Sprachhandlung vollzieht ein Sprecher, wenn er etwas „mit dem
Plan, in der Absicht, zu dem Zweck“ (Austin 1979: 118) äußert, bestimmte
Wirkungen beim Angesprochenen auszulösen. Der uns hier nur interessierende illokutionäre Akt, ist der, „den man
vollzieht, indem man etwas sagt, im
Unterschied zu dem Akt, „daß man
etwas sagt“ (ebd.: 117). Im Vollzug des illokutionären Akts können wir „die Äußerung als etwas (als Befehl und dergleichen) meinen“ (ebd.: 118, meinen
im Sinne von meinenS). Im
Vollzug lokutionärer Akte können wir „mit
der Äußerung etwas meinen“ (ebd.:
118, meinen im Sinne von meinenG ).
Wenn wir nun in illokutionären Akten die Äußerungen als etwas meinenS (also als Befehl,
Aufforderung, Behauptung, Verbot etc.), dann üben sie verschiedene Funktionen aus, dienen sie verschiedenen
Zwecken: Austin spricht von
„‚illokutionären Rollen‘ [illocutionary forces]“ (Austin 1979: 117) der Sprache
und unterscheidet dezidiert „zwischen der Rolle
(‚force‘, Anm. S.O.) der Äußerung und ihrer Bedeutung
(im Sinne dessen, worüber sie spricht und was sie darüber sagt)“ (ebd.: 118).
Hier
wird verständlich, warum es Skinner bei einer Äußerung ausdrücklich „nicht um
Bedeutung, sondern um den Vollzug bzw. die Performance illokutionärer Akte“
(Skinner 2009c: 73) im Rahmen „der in der Äußerung selbst bestehenden
Interventionen“ (ebd.: 80) geht. Denn für ihn ist jeder Text ein Eingriff in
einen Diskurs. Das heißt, „(j)eder Kommunikationsakt beinhaltet eine
Stellungnahme in bezug auf einen bereits bestehenden Gesprächs- und
Argumentationskontext“ (ebd.: 78). Wollen wir also eine Äußerung verstehen,
müssen wir verstehen, „warum jemand eine bestimmte Äußerung macht“ (ebd.: 78). Damit
wird nicht allein „jede kategorische Trennung von Text und Kontext in Frage“
(ebd.: 80) gestellt, es wird auch der von Roland Barthes und Michel Foucault totgesagte Autor[23]
wiederbelebt.
Denn auch wenn Skinners „Aufmerksamkeit nicht primär individuellen Autoren
(gilt), sondern den allgemeinen diskursiven Kontexten ihrer Zeit“ (ebd. 81), so
gilt es anzuerkennen, „daß Texte (…) Autoren haben und daß Autoren über
bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Texte schreiben“ (ebd.: 82), wir uns
also nicht auf die Untersuchung von Foucaults ‚diskursiven Formationen‘
beschränken können, wollen wir einen Text oder eine Äußerung angemessen
verstehen. Die von Autoren verfassten Texte sind stets intentionale
Interventionen zu bestimmten Diskursen in bestimmten Kulturen in bestimmten Epochen
und deshalb zwingend als solche zu begreifen. Das allgemeine Ziel muss also
darin bestehen, „die (…) untersuchten Texte zurück in diejenigen kulturellen
und diskursiven Kontexte zu stellen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurden“
(ebd.: 88).
7.
Auch
wenn hier zahlreiche grundsätzliche Vorbehalte gegen das Gelingen eines solchen
Unterfangens vorgetragen wurden, so bedeutet dies nicht, dass es nicht versucht
werden sollte. Im Gegenteil. Nur dann, wenn Begriffe, Äußerungen und Texte
nicht als rückprojizierte Konstrukte verhandelt, sondern in eben die
kulturellen und diskursiven Kontexte gestellt werden, in denen sie ursprünglich
verfasst wurden, eröffnet sich uns die Möglichkeit einer „ernsthafte(n)
Auseinandersetzung mit unvertrauten Denkweisen“ (Skinner 2009c: 88) und
Lebensformen. Es ist diese Auseinandersetzung, die es uns ermöglicht, „eine
gewisse Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen und Wertesystemen zu gewinnen“
(ebd.: 88) und zu erkennen, „daß unsere eigenen Beschreibungen und Begriffe
keineswegs zeitlos überlegen
sind“[24]
(ebd.:
88).
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zuletzt abgerufen am 31.01.2020)
[1] Siehe
die Differenzierung der Gebrauchsebenen und damit der Gebrauchsregeln des
Wortes Kunst in meinem Aufsatz
‚Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst'‘ (Oehm 2019a: 10,
auch Oehm 2019b: 272).
[2] Ist dies, bezogen auf andere
Epochen, eine Frage in diachroner Hinsicht, lässt sie sich auch, bezogen auf
andere Kulturen, ganz ähnlich in synchroner Hinsicht stellen. So wie dies die
Kuratoren der Ausstellung „IncarNations – African Art as Philosophy“ in Brüssel getan haben: „Was
ist afrikanische Kunst? (…)
Existiert sie überhaupt? Oder ist sie nur eine Projektion eines westlichen
Konzepts?“ (Sefa
2019: o.S). In einer Besprechung in der FAZ schreibt Nora Sefa, die Ausstellung
sei eine einzige Aufforderung: „Dekolonisiert eure Sichtweise.“ Die
Dekolonisierung würde allerdings damit zu beginnen haben, dass dieser
abendländisch geprägte und tradierte Begriff ‚Kunst‘ keine Anwendung auf
Artefakte und Entäußerungen nicht-abendländischer Kulturen mehr findet. Insbesondere
solcher Kulturen, die eine Kolonisierung durch aggressive Usurpation
abendländischer Mächte erleiden mussten – das heißt einen auch kulturell
übergriffigen Kolonialismus, der zumeist vom festen Glauben an eine eigene
rassische Höherwertigkeit begleitet war. Was aber, wenn der in dieser Weise
vorbelastete Begriff ‚Kunst‘, unbedarft durch Kuratoren gebraucht wird, die
ihrerseits aus eben jenen Ländern kommen, die durch einen solchen Kolonialismus
ihrer kulturellen Identität vielfach fast gänzlich beraubt wurden? „Kolonialität
ist fester Bestandteil des Denkens, der Strukturen und Institutionen der
Kolonialkulturen und entsteht nicht erst mit der territorialen Kolonisierung“,
so der Kulturtheoretiker Christoph Brunner (Bempeza et al.: 24). Nicht nur des
Denkens, der Strukturen und Institutionen der Kolonialkulturen möchte man
hinzufügen: So perpetuieren durch den perpetuierten Gebrauch des
abendländischen Kernbegriffs der Ästhetik par excellence ‚Kunst‘ ausgerechnet
die die kolonialen Denkstrukturen, die sich gegen diese in Stellung bringen.
[3] Beispielsweise redet der renommierte Tübinger
Professor für Ältere Urgeschichte, Nicholas J. Conard, in seinem Beitrag
‚Vorsprung durch Kunst‘ für die FAZ einer solchen Kontinuität das Wort: „Die
Fragen, wann, warum und wo die Kunst entstanden ist, wird man wahrscheinlich
noch viele Jahre lang diskutieren“ (Conard 2017: o.S.).
[4] Zwischen Kunst und Handel bestand bereits in der
Antike eine innige Beziehung. Darauf weist nicht zuletzt Hans Peter Thurn hin:
Der griechische Gott Hermeias,
uns besser bekannt als Hermes, galt als Schutzgott der Kaufleute, „als
Schirmherr der Herden und als Patron der Künste“ (Thurn 1994: 14). Noch
deutlicher wird diese enge Verbindung bei den Römern. Sie „betonten diesen
Geschäftsaspekt, indem sie den griechischen Hermes unter Verwendung des
Handelswortes ‚merx‘ in Merkur umtauften und diesem als Accessoire einen
Geldbeutel mit auf den Weg gaben“ (ebd. 1994: 14). merx, mercis, dt. Ware. Davon leitet sich unter anderem
unser heutiger Begriff ‚Markt‘ ab.
[5]
Den Begriff der unsichtbaren Hand (engl. invisible hand) führte der schottische
Nationalökonom Adam Smith in seinem Werk ‚Der Wohlstand der Nationen‘ (Smith
1978: 371) ein.
[6]
Ein Beispiel zu Verdeutlichung: Die Begriffe ‚Primzahl‘, ‚Haus‘ und ‚Spielzeug‘
werden verschiedenen Begriffstypen zugeordnet. Die Primzahl ist eindeutig
definiert: Jede Zahl ist eine Primzahl, die nur durch sich selbst und 1 teilbar
ist. Der Begriff ‚Haus‘ hingegen ist nicht so eindeutig definiert. Er kann zwar
nach allgemein akzeptierter Gebrauchsweise nur auf bestimmte Objekte bezogen
werden, aber dennoch ist ihm eine gewisse Vagheit eigen – ich habe ad hoc die Möglichkeit, etwas als Haus
zu bezeichnen, was andere eher als Hütte bezeichnen würden. Das heißt: Das
gleiche Objekt kann zum gleichen Zeitpunkt von zwei verschiedenen Personen
widerspruchsfrei einmal als Haus und einmal als Hütte bezeichnet werden. Der
Begriff ‚Spielzeug‘ wiederum besitzt, ebenso wie der Begriff ‚Geschenk‘, eine geradezu
maximale Vagheit: Da alles potentiell ein Spielzeug oder ein Geschenk sein kann
(auch wenn es uns noch so absurd erscheint), ist die Aussage ‚x ist ein
Spielzeug/Geschenk‘ potentiell immer wahr.
[7]
Dieser Zeitraum einer verständnissichernden „diachronischen Identität“ (Keller
2014: 132) umspannt in der Regel die parallel lebenden und miteinander im Rahmen kooperativer
Prozesse geteilter Intentionalität kommunizierenden Generationen – also drei
bis vier Generationen.
[8] Die beiden Begriffe ‚Begriff
‚Kunst‘‘ und ‚Kunstbegriff‘ sind sorgfältig voneinander zu trennen. Der Begriff
‚Kunst‘ bezieht sich auf die vertikale und horizontale Achse der
Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf
der Mikroebene
des individuellen Kunstschaffens und der Makroebene der sozialen Institutionen (Oehm 2019a: 10), der ‚Kunstbegriff‘ hingegen
bezeichnet den in der Kunstwelt häufig undifferenziert gebrauchten Begriff, bei
dem oftmals nicht klar wird, auf welche der verschiedenen Ebenen des Gebrauchs
des Wortes Kunst er sich gerade in
dem Moment bezieht: auf das konkrete Werk, das Oeuvre, das Genre, das Medium,
den alle Künste umfassenden Oberbegriff etc. pp.
[9] So
mancher Beteiligter wird von sich behaupten, das Wort Kunst angemessen gebrauchen und womöglich sogar eine ‚korrekte‘
Zuschreibung von etwas als Kunst (resp. als Kunstwerk) liefern zu können. Manche,
so etwa Mitglieder der Gruppe D: ‚Kunstexperten‘, nehmen dies sogar exklusiv
für sich in Anspruch. Allerdings verfangen sie sich dabei rasch in einer
zirkulären Argumentation: Wer legt fest, dass nur Kunstexperten dazu befähigt
sind, sachdienliche Aussagen über Kunst zu machen resp. ein Werk als Kunstwerk
zu erkennen? In der Regel niemand anderes als eben Kunstexperten.
[10]
Der Begriff
‚episodal‘ soll einen entscheidenden Umstand kennzeichnen: Zum einen handelt es
sich bei der Etablierung und Wandlung der Gebrauchsweisen um einen
fortlaufenden Prozess, der erst mit dem Ende aller Sprecher natürlicher
Sprachen sein Ende findet. Zum anderen ist dieser Prozess eingebettet in ein
Kontinuum, das, nach derzeitiger Lehrmeinung der Wissenschaft, seinen Anfang in
der kosmischen Inflation der Singularität, dem Urknall, nahm und in diesem einzigartigen
Ereignis aus einem Punkt Raum und Zeit konstituierte. Bei der physikalischen
Zeit handelt es sich nach allem, was wir wissen, demnach um ein gerichtetes,
irreversibles Momentum, das de facto nur reine Dauer, aber keine Etappen kennt, die durch einen bezeichneten Anfang sowie ein
bezeichnetes Ende definiert sind. Die Rede von einer Etappe wäre das, was
Keller „ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“ (Keller 2014: 171) nennen
würde. Was so theoretisch klingt, hat praktisch dramatische Auswirkungen. Denn
wenn wir bei dem Kontinuum, das wir als ‚physikalische Zeit‘ kennen, von
Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit reden, so nutzen wir, ohne dass es den
meisten von uns bewusst ist, drei Begriffe, die drei verschiedenen
Begriffstypen zuzuordnen sind: Die ‚Zukunft‘ als das, was kommen wird, ist,
auch wenn sie bislang immer eingetreten ist, reine Spekulation – nichts
berechtigt uns zu der Annahme, dass nicht morgen schon ein kosmisches Ereignis
ähnlichen Ausmaßes wie das des Urknalls dem ganzen Spuk ein Ende bereiten wird
(das Problem ist bekannt als ‚Humes Induktionsproblem‘). Die ‚Gegenwart‘ ist in
diesem steten Fluss reiner Dauer lediglich als ein von den verschiedenen
Sprechern natürlicher Sprache ad hoc
definierter Zeitraum, als eine willkürlich begrenzte Etappe, als ‚episodales
Ereignis‘ (Oehm 2019b: 80 et al.) gegeben – de facto rauscht die Zukunft
ungebremst durch sie hindurch in die Vergangenheit (der Großteil des Hier und
Jetzt, das wir ad hoc Gegenwart
nennen, liegt übrigens bereits in der Vergangenheit). Die ‚Vergangenheit‘ ist
demnach die einzige Größe, die für uns fassbar ist. Da aber die Zeit, soweit
wir wissen, irreversibel ist, entzieht sich ausgerechnet diese fassbare Größe
unserer validen Erkenntnis und damit der Erfassbarkeit: Wir können keine
verifizierbaren Aussagen über sie machen, alles muss prinzipiell Hypothese
bleiben.
[11] Ein analoges
Defizit ergibt sich für uns aufgrund unserer fehlenden sprachlichen
Sozialisation in anderen Sprachgemeinschaften und, mehr noch, in gänzlich anderen
Kulturkreisen. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein – wie auch der
Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
[12] Einzig ein Text, also das schriftliche Zeugnis vergangener Äußerungen und Aussagen, ist uns
aus vergangenen Zeiten zugänglich. Für den Historiker und
Politikwissenschaftler Quentin Skinner (cf. 4.) handelt es sich dabei, so
Marion Heinz/Martin Ruehl in ihrem Nachwort zu dessen Aufsatzband ‚Visionen des
Politischen‘, um eine Form „‚erstarrter Sprechhandlung‘ (frozen speech)“ (Heinz/Ruehl 2009: 271). Eine Formulierung, die an
eine Metapher des normannischen Chronisten Ordericus Vitalis (1075 - 1143)
erinnert, der den Text resp. die Schrift als „gefrorene Sprache“ (Wenzel 1997:
15) bezeichnete.
[13] Die verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst werden strukturell auf der vertikalen Achse differenziert.
Auf der horizontalen Achse der jeweils faktischen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst sind, wie gesehen, dessen
singulären, gruppenspezifischen und auch die innerhalb einer Sprachgemeinschaft
allgemein akzeptierten Gebrauchsweisen zu differenzieren (Oehm 2019b: 272).
[14] Auf signifikante Weise ist von
einem solchen Wandel auch das Wort Kunst
betroffen. So wie sich im 18. Jahrhundert ein gänzlich neuer Gebrauch des
Wortes Kunst und im Verlaufe dessen
ein Begriff ‚Kunst‘ im Sinne des Oberbegriffs aller Künste als nicht zählbares
Substantiv etablierte (wodurch erst die Wesensfrage ‚Was ist Kunst?‘ möglich
wurde), so verschwanden im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiedene spezifische
Gebrauchsweisen der Wortes Kunst und
damit des Begriffs ‚Kunst‘ fast völlig aus unserem Sprachgebrauch: Kunst als die
Bezeichnung der Ausübung technischer Gewerke sowie die bestimmter Vorrichtungen
resp. technischer Anlagen (z.B. ‚Wasserkunst‘ oder ‚Dampfkunst‘), die von einem
‚Kunstmeister‘ konstruiert und instand gehalten wurden.
[15] Der Sprachgebrauch in der geschriebenen Sprache ist vom
Sprachgebrauch in der gesprochenen Sprache zu differenzieren – die Etablierung
allgemein akzeptierter Gebrauchsweisen läuft in der Schriftsprache der in der
gesprochenen Sprache stets hinterher. Es ist eine asynchrone Entwicklung: Das,
was in gesprochenen Sprache bereits üblich ist und nicht als fehlerhaft
empfunden wird, wird in der geschriebenen Sprache zur gleichen Zeit als Fehler
empfunden. Noch. Denn wir sind „uns nicht bewusst, dass die systematischen
Fehler von heute mit hoher Wahrscheinlichkeit die neuen Regeln von morgen sind“
(Keller 2004: 195). Plakativ vor Augen geführt wird uns das durch ein sprachhistorisch
neues Phänomen, das sich der klassisch-dichotomen Einteilung von geschriebener
und gesprochener Sprache entzieht – Linguisten nennen es ‚geschriebene
Mündlichkeit‘: die Sprache in E-Mails, auf WhatsApp, Twitter etc.
[16]
Wurden Sprecher und Angesprochener, Autor und Leser zur gleichen Zeit in der
gleichen Sprachgemeinschaft sozialisiert, erhöht dies die Chance erheblich,
dass beide, Angesprochener wie Leser, „auf eine gängige Bedeutung der
geäußerten Ausdrücke zurückgreifen (können)“ (Liedtke 2016: 41). Der schweizerische Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure nannte den
Prozess der Bildung einer solchen Verständnisschnittmenge,
die kollektives Resultat des Prozesses der unsichtbaren Hand ist, ‚soziale Kristallisation‘: „Zwischen allen Individuen, die so durch die
menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt heraus: alle
reproduzieren – allerdings nicht genau, aber annähernd – dieselben Zeichen, an
die dieselben Vorstellungen geknüpft sind“ (de Saussure 1967: 15)
[17] Quentin Skinner, so hat es den Anschein, erweist
sich hier als „Vertreter der Doppellebenlegende“ von Leib und Seele resp. Leib
und Geist (Ryle 1978: 63), der in Descartes’ Tradition das „Dogma vom Gespenst
in der Maschine“ (ebd.: 22) und damit den Mythos vom „Geist in der Person“
(ebd.: 61) perpetuiert. Gilbert Ryle hat dieses Konzept in seinem 1949
veröffentlichten Werk ‚The Concept of Mind‘ in Bausch und Bogen verworfen. Der
Konflikt zwischen diesen beiden Positionen kann an dieser Stelle nur benannt,
nicht diskutiert werden, zumal er bis heute kein Ende gefunden hat.
[18] Quentin Skinner wird hier wohl, neben dem
Poststrukturalismus, insbesondere an den New Criticism gedacht haben, der lange
Jahre die Literaturbetrachtung in den USA dominierte. Sein Gründungsdokument
ist der 1946 erschienene Aufsatz ‚The Intentional Fallacy‘ (dt. ‚Der
intentionale Fehlschluss‘) von William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley. Ihr
Credo lautete: „Zur Beurteilung und Deutung eines literarischen Textes sind
allein dieser Text und seine Merkmale, nicht aber die Intention des Autors
relevant“ (Jannidis et al. 2016: 80). Da sich dessen Intention, so beschreiben
Jannidis et al. die Position von Wimsatt/Beardsley, „sich nur mithilfe
textexternen Materials rekonstruieren lässt“ (ebd.: 80), halten diese den
Schluss von der Autorenintention „auf die Qualität und die Bedeutung eines
literarischen Werks (…) für einen Fehlschluss“ (ebd.: 80).
[19] Den Begriff ‚force‘ führte John L. Austin in
seinem Werk ‚How to do things with Words‘ (dt. Zur Theorie der Sprechakte) ein (Austin 1979: 117, es handelt sich
dabei um die 1962 erstmals auf Englisch veröffentlichten Vorlesungen, die
Austin 1955 als William James Lectures an der Harvard Universität gehalten hat).
Er differenziert dort zwischen verschiedenen Sprachhandlungen, die wir in der
umgangssprachlichen Kommunikation mit bestimmten Äußerungen vollziehen. Einen
dieser Sprechakte bezeichnet Austin als „den Vollzug eines ‚illokutionären‘
Aktes (…) d.h. einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt“ (ebd.: 117), der von „dem Akt, daß man etwas sagt“ (ebd.: 117) zu
unterscheiden sei. Austin nennt „die Theorie der verschiedenen Funktionen, die
die Sprache unter diesem Aspekt haben kann (…) die Theorie der ‚illokutionären
Rollen‘ [illocutionary forces]“
(ebd.: 117, in der von Eike von Savigny bearbeiteten deutschen Fassung wird
‚force‘ nicht mit ‚Kraft‘, sondern mit ‚Rolle‘ übersetzt). Wollen wir also eine
Aussage verstehen, müssen wir sie auf beiden Ebenen verstehen. Wenn wir nun, so
Quentin Skinner, Dinge mit Worten tun, wenn wir „eine bestimmte Art von Handlung vollziehen, also etwas überlegt
und willentlich tun“ (Skinner 2009c: 66), so „kann die Verbindung zwischen der
illokutionären Kraft der Sprache und dem Vollzug illokutionärer Handlungen –
wie bei allen willentlichen Handlungen – nur in den Absichten des Sprechers
liegen“ (ebd.: 66).
[20] Auch diese Aussage bedarf einer Präzision. Der Linguist
Guy Deutscher weist den Leser seines Buchs ‚Im Spiegel der Sprache‘ darauf hin,
dass „die Art und Weise, in der Sie ‚Kultur‘ verstehen, weitgehend davon
(abhängt), aus welcher Kultur Sie kommen“ (Deutscher 2020: 16). Damit meint er
nicht etwa Leser aus so grundverschiedenen Kulturen in der Synchronie wie etwa
die schwedische und die tuwinische, sondern die britische, französische und
deutsche. So definiert beispielsweise The Chambers Dictionary ‚Culture‘ als
„Kultivierung, Kultiviertheit, Verfeinerung, das Ergebnis der Kultivierung,
eine Art Zivilisation“ (ebd.: 16), Atilf, Trésor de la langue francaise
informatisé ‚Culture‘ als „Gesamtheit der Mittel, die der Mensch einsetzt, um
seine Kenntnisse zu erweitern sowie seine geistige Fähigkeiten, vor allem seine
Urteilskraft und seinen Geschmack, zu entwickeln und zu verbessern“ (ebd.: 17)
und Störig, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache ‚Kultur‘ als „Gesamtheit
der geistigen und künstlerischen Errungenschaften einer Gesellschaft“ (ebd.:
16). Und wenn „Anthropologen von Kultur sprechen, dann verwenden sie das Wort
in einem erheblich anderen Sinn als die hier aufgeführten Definitionen“ (ebd.:
17).
[21] Dazu gehört auch das weite Feld der
verschiedenen Implikaturen, das H. Paul Grice eröffnet hat (cf. Liedtke 2016:
69ff.).
[22] Zur Erläuterung der illokutionären Akte und
ihrer Differenzierung von lokutionären und perlokutionären Akten siehe hier
Kap. 6.
[23] Roland Barthes: ‚Der Tod des Autors‘ sowie Michel Foucault: ‚Was ist ein Autor?‘, in: Jannidis, Fotis et al. (2016): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam Verlag.
[24] Quentin Skinner verweist hier
auf die Überlegungen insbesondere von Hans-Georg Gadamer (zur
‚Geschichtlichkeit des Verstehens‘ in: ‚Wahrheit und Methode‘, Tübingen: J.C.B.
Mohr) sowie Richard
Rorty (in: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp Verlag).