Hat Kunst Funktionen?[1]
Der Versuch, die Frage zu beantworten, ob Kunst Funktionen hat, setzt erstens stillschweigend voraus, dass alle am Diskurs Beteiligten wissen, worüber man redet, wenn man über Kunst redet. Zweitens setzt er stillschweigend voraus, dass alle über das Gleiche reden, wenn sie über Kunst reden. Und drittens, dass das, was alle so unbefangen ‚Kunst‘ nennen, Eigenschaften haben kann. Habe ich mich zu den ersten beiden stillschweigenden Voraussetzungen an anderer Stelle bereits ausführlich kritisch geäußert, konzentriert sich der vorliegende Aufsatz auf letztere. Meine These ist, dass diese Präsupposition auf einem Missverständnis beruht.
Es wird im Folgenden argumentiert, dass wir es bei dem Begriff ‚Kunst‘, der in der Eingangsfrage zur Anwendung kommt, mit einem Abstraktum zu tun haben, nicht mit einem Konkretum. Nun können Abstrakta zwar Prädikate zugeschrieben werden, aber keine Eigenschaften. Und da es sich bei Funktionen um Eigenschaften handelt, können Abstrakta infolgedessen auch keine Funktionen zugeschrieben werden. Auch sie kommen allein Konkreta zu. Weiter wird argumentiert, dass die Eigenschaft ‚Funktion-haben‘ unter den Eigenschaften eine Sonderrolle einnimmt: ‚Funktion-haben‘ impliziert stets Zweckgerichtetheit. Aber weder unbelebte Konkreta noch Institutionen besitzen Zweckgerichtetheit. Sie kann nur da vorliegen, wo intentional und bewusst, vorsätzlich und geplant ein Ziel verfolgt wird. Dazu sind – nach allem, was wir derzeit wissen – allein intelligible Handlungssubjekte imstande. Also wir. Sprich: Nichts hat per se eine Funktion. Und damit auch nicht Kunst. Vielmehr weisen Handlungssubjekte mittels zweckgerichteter Handlungen etwas erst eine Funktion zu. Einerseits. Andererseits: Kunst hat durchaus eine Funktion in dem Sinne, dass der künstlerische Akt als kommunikativer Akt eine zweckgerichtete Handlung ist: ein Akt mit Beeinflussungsfunktion. Das heißt in unserem Fall: Künstlerisch Schaffende wollen durch ein Werk andere zu etwas bewegen. Das künstlerische Schaffen ist somit als generell zweckbestimmt, das heißt als funktional zu verstehen und lässt sich formal als intentionaler perlokutionärer Akt darstellen:
A will bei Bn durch x die Reaktion y bewirken resp. A will Bn durch x zu y bewegen.
1.
In einem englischen Text mag es unzählige Vorkommnisse des Wortes ‚the‘ geben, aber es gibt nur „one word ‘the’ in the English language; and it is impossible that this word should lie visibly on a page or be heard in any voice, for the reason that it is not a Single thing or Single event. It does not exist“ (Peirce 1906: 505/506; Hervorhebung SO). Wir haben es hier mit der klassischen Type-Token-Differenzierung des amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce zu tun: Den Vorkommnissen – den Tokens – steht der Type gegenüber. Handelt es sich bei den Tokens um Konkreta, so stellt der Type eine Abstraktion der Konkreta dar. In unserer typisch ‚handgreiflichen‘ Art bezeichnen wir solch ein Abstraktum gerne auch als ‚abstrakten Gegenstand‘[2]. Aber da die Annahme ‚unum nomen unum nominatum‘ nicht gilt, also das gleiche Wort nicht immer mit der gleichen Vorstellung verknüpft ist, müssen wir zwischen dem Wort Gegenstand und dem Begriff ‚Gegenstand‘ unterscheiden. Was in diesem Fall bedeutet: Der Gegenstand, von dem hier die Rede ist, ist kein Konkretum, sondern ein Abstraktum. Und ein Abstraktum ‚does not exist‘[3]: Der Type ‚Grizzlybär‘ kann nicht brummen, der Token Grizzlybär sehr wohl.
Die real existierenden Vorkommnisse der Grizzlybären haben bereits zu einer Zeit gebrummt, als die Menschen den Type ‚Grizzlybär‘ noch gar nicht bestimmt haben. Das heißt: Der Type ‚Grizzlybär‘ ist den Tokens Grizzlybär logisch nachgängig; die Bestimmung der Art ergibt sich erst aus der Reflektion der empirischen Faktenlage. Anhand der untersuchten Exemplare und ihrer dabei festgestellten Eigenschaften lässt sich eine Klassifikation erstellen. Sie befähigt uns, zukünftig verschiedene Tokens der Gattung ‚Ursus‘ zum einen als ‚Grizzlybär‘ zu identifizieren und zum anderen sie von anderen Tokens der Gattung ‚Ursus‘ zu differenzieren. Mit anderen Worten: Wurde aufgrund der Grizzlybär-Tokens eine gültige Bestimmung ihrer Eigenschaften ermittelt, lässt sich anhand dessen dann der Type ‚Grizzlybär‘ und seine entsprechenden Prädikate definieren. Ab diesem Zeitpunkt kann dann anhand der Grizzlybär-Type-Prädikationen, die mittels der empirisch eruierten Grizzlybär-Tokens-Eigenschaften bestimmt wurden, entschieden werden, ob es sich bei dem real existierenden Vorkommnis der Gattung ‚Ursus‘ um einen Grizzlybären oder vielleicht doch eher um einen Kodiakbären handelt.
Darüber, dass man Entitäten, die nicht existieren, zwar grammatisch korrekt Prädikate, jedoch keine Eigenschaften zuschreiben kann, dürfte Konsens bestehen. Nun bilden sich aber diese differenten Zuschreibungen im alltäglichen Sprachgebrauch nicht ab, wodurch ihre grundsätzliche Differenz zumeist unbemerkt bleibt:
a. Der Grizzlybär kann brummen.
Beziehe ich mich mit diesem grammatisch korrekten Satz auf einen Token Grizzlybär – also zum Beispiel auf den real existierenden Grizzlybären, der mittags um 15:00 Uhr Alaska Standard Time in Fairbanks über die College Road trottet –, so handelt es sich bei ‚kann brummen‘ nicht nur um eine Prädikation, sondern auch um die korrekte Zuschreibung der Eigenschaft ‚kann brummen‘.
Den gleichlautenden grammatisch korrekten Satz kann ich aber auch formulieren, wenn ich von dem Typus ‚Grizzlybär‘ spreche:
b. Der Grizzlybär kann brummen.
Auch hier handelt es sich bei ‚kann brummen‘ um eine Prädikation. Da wir aber in diesem Fall nicht auf den Token Grizzlybär, sondern auf den Typus ‚Grizzlybär‘ referieren, liegt bei ‚kann brummen‘ keine Zuschreibung einer Eigenschaft vor.
2.
Was hat nun der Typus ‚Grizzlybär‘ mit der Kunst zu tun, auf die wir in der Eingangsfrage Bezug nehmen? Nun: Beide gehören zur Kategorie der Abstrakta. Was bedeutet, dass das, was für den Typus ‚Grizzlybär‘ gilt, analog auch für die Kunst gilt, von der wir hier sprechen:
i. Der Typus ‚Grizzlybär‘ ‚does not exist’ -> Die Kunst ‚does not exist’
ii. Dem Typus ‚Grizzlybär‘ können grammatisch korrekt Prädikate zugeschrieben werden -> Der Kunst können grammatisch korrekt Prädikate zugeschrieben werden
iii. Dem Typus ‚Grizzlybär‘ können keine Eigenschaften zugeschrieben werden -> Der Kunst können keine Eigenschaften zugeschrieben werden
iv. Beziehe ich mich in der Aussage Der Grizzlybär kann brummen auf den Typus ‚Grizzlybär‘, so handelt es sich bei ‚kann brummen‘ um eine Prädikation, nicht aber um eine Eigenschaft -> In der Aussage Die Kunst hat die Funktion x handelt es sich bei ‚hat die Funktion x‘ um eine Prädikation, nicht aber um eine Eigenschaft
Die Punkte i., iii. und iv. lassen jedoch Künstler*innen, Kunstwissenschaftler*innen oder Kunstphilosoph*innen, wenn sie sich die Frage stellen, ob Kunst Funktionen hat, zumeist außer Acht. Dabei handelt es sich bei ‚der Kunst‘ weder um ein belebtes noch um ein unbelebtes Konkretum. Genauer gesagt: weder um ein intelligibles, selbsttätig agierendes Handlungssubjekt noch um eine physisch präsente, persistierende organische oder anorganische Entität noch um ein physikalisch präsentes, transitorisches Ereignis. ‚Die Kunst‘[4] ist ein Allgemeinbegriff, ein Abstraktum. Nicht real gegeben, sondern allein Produkt unserer Phantasie, Schöpfung unseres Intellekts. Eine faszinierende Abstraktion, die uns dazu befähigt, theoretisch über etwas zu reden, was realiter, also als Konkretum, nicht existiert. Und dies zudem in einer Weise, als würde sie existieren. Mehr noch: als würde sie nicht nur als grammatisches Subjekt, sondern auch als Handlungssubjekt existieren.
Was bereits bei unbelebten Konkreta zu solch kruden animistischen Phänomenen führt wie in jüngeren bildtheoretischen Ansätzen, wo den „Bildern die Rolle aktiver Subjekte“ (Grave 2020: 93) zugewiesen wird und sie „als ein Agens erscheinen“ (ebd.: 93), führt bei dem Abstraktum ‚Kunst‘ zu vollends obskuren Aussagen, in denen ein Animismus fröhliche Urständ feiert. Da ist die Rede davon, dass die Kunst ein „autonomes Wesen“ (Gabriel 2021: 23) besitzt und „dieses Wesen (…) in permanentem Konflikt mit anderen Kräften“ (ebd.: 23) steht. Es wird die These aufgestellt, „dass Kunst die Macht kontrolliert“ (ebd.: 23) und sie uns „kontrolliert (…), ohne dabei ein spezifisches Interesse zu offenbaren“ (ebd.: 18) und dass sie „sich vor uns verbergen und ihre Macht ausüben (kann), ohne dass wir es bewusst wahrnehmen“ (ebd.: 100).
Bei der Aussage Die Kunst hat die Funktion x handelt es sich um eine alltagssprachliche Redeweise. Das Satzelement ‚hat die Funktion x‘ ist zwar Prädikat des Satzes, es bezeichnet aber keine Eigenschaft der Kunst, weil ein Abstraktum nun einmal grundsätzlich keine Eigenschaften haben kann. Auch nicht die Eigenschaft ‚Funktion-x-haben‘. Diese Feststellung wirkt bei flüchtiger Lektüre völlig unverfänglich. Doch bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass sie eklatante Auswirkungen auf einen der zentralen Kunstdiskurse der letzten 250 Jahre hat: Wenn Abstrakta keine Eigenschaften – und damit auch nicht die Eigenschaft ‚Funktion-x-haben‘ – haben können, kann es auf die Frage, ob Kunst Funktionen hat, schlicht deshalb keine zufriedenstellende Antwort geben, weil sich diese Frage gar nicht stellt. Zumindest nicht in dieser Weise und nicht bei dem Oberbegriff ‚Kunst‘ (es wird bei der alltagssprachlichen Aussage Die Kunst hat die Funktion x zwar ein zutreffender Sachverhalt benannt, aber er wird verkürzt und damit verfälschend dargestellt – dazu später mehr).
3.
Konsens sollte auch darüber bestehen, dass Konkreta, im Gegensatz zu Abstrakta, Eigenschaften zugeschrieben werden können. Wobei diese Zuschreibung mehr ist als nur eine bloße temporäre Etikettierung: Es handelt sich um eine assertorische Äußerung, bei der sich die Sprecher*innen auf Wahrheit oder Falschheit der zum Ausdruck gebrachten Proposition festlegen. Nun ist jedoch mit einer Aussage wie ‚Der Hammer ist massiv‘ nicht allein ein Wahrheitsanspruch verbunden[5]. Es wird implizit auch behauptet, dass ‚ist massiv‘ eine unverbrüchliche, wesensmäßige Eigenschaft eben dieses Hammers ist. Das heißt: Es handelt sich im Grunde nicht einfach um die Zuschreibung einer Eigenschaft des Hammers, sondern vielmehr um die Beschreibung seines Seinszustands: Es gibt neben der Entität ‚Hammer‘ keine zweite Entität namens ‚Massiv-sein‘. Beides ist eins. Diese Einsicht dürfte, geht es um Eigenschaften wie Merkmale, Attribute oder Qualitäten, unstrittig sein. Aber wie verhält es sich mit Funktionen? Wären auch sie wesensmäßige Eigenschaft des Hammers, liefe dies auf die Annahme hinaus, dass dem Hammer ein bestimmter Zweck, dem er dient, a priori innewohnt.
Nun lässt sich sicherlich nicht bestreiten, dass uns ein Hammer zu bestimmten Zwecken dient. Aber kann diese dienende Funktion so aufgefasst werden, dass der konkrete Hammer, der in meiner Werkzeugkiste liegt, eine ihm inhärente dienende Funktion, eine Zweckgerichtetheit besitzt? Vertreter eines mechanistischen Weltbildes mögen diese Frage vielleicht bejahen. Nur stünden sie dann in der Pflicht, eine plausible Erklärung dafür zu liefern, wie sich diese Zweckgerichtetheit des Hammers im Einzelnen ereignet, wie also der Hammer über diese ihm ohne externe Einwirkung zukommende Funktionalität verfügen kann. Eine solche unumstößliche Erklärung hat, soweit ich die philosophische Literatur überblicken kann, bislang noch niemand geliefert.
Einstweilen werde ich einen anderen Weg gehen. Dazu greife ich auf Überlegungen des Linguisten Rudi Keller zurück, der uns in seinem Werk Sprachwandel über einige bemerkenswerte Begriffsverwirrungen aufklärt. Eine dieser Verwirrungen betrifft die Wörter Zweck und Absicht:
Eine Handlung hat einen Zweck, eine Person hat eine Absicht (und nicht umgekehrt). Die Formulierung der Absicht eines Handelnden ist immer zugleich eine Formulierung des Zwecks seiner Handlung. Die Absicht des Handelnden ist immer die Erfüllung des Zwecks seiner Handlung. (Dies ist keine Aussage über die Welt, sondern über die Semantik der Wörter Zweck und Absicht!) Was als Erfüllung des Zwecks einer Handlung gilt, gilt also zugleich als Realisierung der Absicht des Handelnden. (Keller 2014: 26)
Mit anderen Worten: Es sind stets intelligible Subjekte, die intentional handeln, nicht aber unbelebte Objekte. Das, worauf die Absicht dieser Handlungssubjekte abzielt, ist der Handlungszweck. Ist der Zweck der Handlung erfüllt, gilt die Absicht des Handelnden als in die Tat umgesetzt. An dieser Stelle weist uns Keller auf eine weitere bemerkenswerte Begriffsverwirrung hin, die es erforderlich macht, unsere Verwendung des Begriffs ‚Zweck‘ zu präzisieren. Sie betrifft die Wörter intentional und geplant:
Die auf ein zukünftiges Tun gerichtete Absicht ist nicht identisch mit der Absicht, in der eine Handlung vollzogen wird. (Keller 2014: 27)
Wir müssen demnach zwei Begriffe ‚Absicht‘ unterscheiden. Der erste Begriff bezeichnet „(d)ie Absicht, in der eine Handlung vollzogen wird“ und „betrifft die Logik des Handelns“ (ebd.: 27): „Wenn ich mich anschicke, die Tür zu öffnen, so spreize ich den Daumen vom Zeigefinger, um die Klinke greifen zu können“ (ebd.: 28). Diese Handlung, das Abspreizen des Daumens, geschieht zwar absichtlich, „aber ich nehme sie mir weder jemals vor noch plane ich sie“ (ebd.: 28). Auch ist anzunehmen, dass sie intuitiv erfolgt, also nicht bewusst. Diese Form der Absicht, „die Absicht-in-der-etwas-getan-wird“, nennt Keller „AbsichtZ“ (ebd.: 27; d.h.: Zweckabsicht). Davon zu unterscheiden ist die Absicht, die den Endzweck, das telos meiner Handlung, die Tür zu öffnen, betrifft – sie „ist ein Vorsatz, ein Plan“ (ebd.: 27). Keller nennt sie „die Absicht-etwas-zu-tun“, die „AbsichtV“ (ebd.: 27; d.h.: Vorsatzabsicht). Das heißt: Handle ich mit AbsichtZ (Zweckabsicht), so handle ich zwar intentional, aber in der Regel nicht bewusst und nicht vorsätzlich, also nicht geplant und nicht zielgerichtet. Handle ich jedoch mit AbsichtV (Vorsatzabsicht), so handle ich intentional, bewusst und vorsätzlich, also geplant und zielgerichtet:
Das Fazit ist: Intentional und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewußt sind keine Gegensätze. (ebd.: 29)
Damit sollte deutlich geworden sein, dass weder bei Abstrakta noch bei solchen Konkreta, bei denen es sich nicht um intelligible Handlungssubjekte handelt, davon gesprochen werden kann, dass sie auf Basis einer Vielzahl von Zweckabsichten eine Vorsatzabsicht verfolgen. Also: dass sie intentional, bewusst und vorsätzlich, d.h. geplant und zielgerichtet etwas herstellen, damit das, was sie herstellen, eine bestimmte Funktion erfüllt. Sie also mit dessen Hilfe bestimmte Ziele erreichen. In unserem Fall: das Ziel, mithilfe des Hammers einen Nagel in die Wand zu schlagen. Vielmehr ist es so, dass es allein intelligiblen Handlungssubjekten, also uns, vorbehalten ist, Vorsatzabsichten auf Basis einer Vielzahl von Zweckabsichten zu verfolgen.
Diese Feststellung stellt einen sachdienlichen Hinweis dar, wie die Frage, ob Kunst Funktionen hat, beantwortet werden kann: Weder die Kunst, die ein Abstraktum darstellt, noch die Resultate künstlerischen Schaffens, bei denen es sich allesamt nicht um zu selbsttätigen Handlungen befähigte intelligible Subjekte handelt, können handeln – schon gar nicht mit Zweckabsichten und Vorsatzabsichten. Diese Fähigkeit ist nach allem, was wir derzeit wissen, allein uns im Rahmen unserer phylogenetisch angelegten und ontogenetisch ausgebildeten, spezifisch menschlichen psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität vorbehalten[6] (cf. Tomasello 2017 passim).
4.
Die Bedeutung des Begriffs ‚Hammer‘ zu kennen, heißt, um die Gebrauchsregeln des Wortes Hammer zu wissen. Wobei es sich bei diesem Wissen in aller Regel nicht um ein ‚knowing that‘, sondern um ein ‚knowing how', das heißt: um ein implizites, nicht aber um ein explizites Wissen handelt. Mit diesem impliziten Wissen weisen wir uns als jemand aus, der weiß, was ein Hammer ist und was nicht. Mehr noch: als jemand, der in Übereinstimmung mit den anderen Mitgliedern der Kultur und der Sprachgemeinschaft, in der wir sozialisiert wurden, sagen kann, ob der jeweils vorliegende Gegenstand ein Hammer ist oder nicht. Die Klassifikation Hammer/Nicht-Hammer scheint für uns dabei so eindeutig zu sein, als wären dem Begriff ‚Hammer‘ klare Grenzen gezogen. Doch wonach richtet sich diese Klassifikation? Da wir mit dem Hammer das Ziel verfolgen können, einen Nagel in die Wand zu schlagen, scheinen es neben bestimmten Objekteigenschaften (‚ist massiv‘) auch derartige Nutzungseigenschaften zu sein, die eine solche Klassifikation ermöglichen (zur Differenzierung der Begriffstypen cf. Keller 2018: 99ff.). Doch was, wenn jemand eben diesem Gegenstand intentional, bewusst und vorsätzlich, also geplant und zielgerichtet eine gänzlich andere Funktion gibt, ihn zum Beispiel jemandem als Geschenk überreicht, auf einem Sideboard als Dekorationsobjekt platziert oder mit ihm im Rahmen einer artistischen Zirkusdarbietung jongliert? Oder wenn die millionenfach gleichgerichtete individuelle intentionale Zuschreibung des Hammers als Werkzeug die von den intentional handelnden Individuen nicht-intendierte kollektive Konsequenz zeitigt, dass, da sich zu viele zu ungeschickt anstellen und sich mit dem Hammer regelmäßig die Daumen blau schlagen, dieses offensichtlich höchst gefährliche Objekt verboten wird[7]? Dieses Resultat müsste allerdings mit der erschöpfenden Beantwortung der Frage einhergehen, was genau verboten werden soll. Die lapidare Antwort ‚Hammer‘ kann jedenfalls nicht so ohne Weiteres befriedigen. Denn der Umstand, dass man mit unzähligen tauglichen wie untauglichen Gegenständen hämmern, ergo sich die Daumen blau schlagen kann, macht diese noch lange nicht zu Hämmern. Falls doch, müssten konsequenter Weise auch Briefbeschwerer, Zangen oder Dachlatten verboten werden. Aber dies würde die Extension des Begriffs so sehr erweitern, dass er fast schon zu einem Kollektivbegriff „wie ‚Spielzeug‘, ‚Möbel‘ oder ‚Geschenkartikel‘“ würde (Keller 2018: 127). Bei diesem Begriffstypus haben die Sprecher*innen maximale Freiheit: „Alles, womit Menschen spielen können, kann gegebenenfalls Spielzeug sein“ (ebd.: 127). Alles, was ich verschenken kann, kann demnach ad hoc zum Geschenkartikel, alles, was ich mir ins Zimmer zum Gebrauch stellen kann, ad hoc zum Möbel und alles, womit ich hämmern kann, ad hoc zum Werkzeug werden. Völlig unabhängig von den jeweiligen Objektmerkmalen oder Wesenseigenschaften. Andererseits: Würden wir die Extension zu sehr einschränken, die Grenzen also zu eng ziehen und einen Hammer womöglich nur dann ‚Hammer‘ nennen, bestünde er aus geschmiedetem Werkzeugstahl, wäre so mancher Hammer keiner mehr – weder die Profi-Fäustel aus funkenfreiem Beryllium noch der Gummihammer, Richterhammer, Auktionshammer oder Reflexhammer.
Wir sehen: Selbst bei einem Gegenstand wie dem Hammer, der seit Jahrtausenden im Gebrauch ist, erscheint die Annahme abwegig, es gäbe für ihn eine scharfe, allgemein verbindliche Definition und eine ebensolche Angabe, welchen Zweck er erfüllt, ergo welche Funktion er hat. Damit erweist sich selbst der Begriff ‚Hammer‘ in gewisser Hinsicht als ein „Begriff mit unscharfen Rändern“ (Keller 2018: 133). Bei diesem Begriffstypus gibt es „weder scharfe Grenzen dafür (…), was unter die Kategorie fällt und was nicht, noch einheitliche Kriterien“ (ebd.: 110). Wir ziehen, sollte es situativ erforderlich sein, im Gebrauch oftmals ad hoc Grenzen. Grenzen, die so noch nicht gezogen wurden und die bei anderer Gelegenheit vielleicht anders gezogen würden: „Du kannst (Grenzen) ziehen: denn es sind noch keine gezogen“ (Wittgenstein 1977: 58, PU §68). Und ein anderer zieht gegebenenfalls andere Grenzen, nennt zum Beispiel ein Objekt ‚Hammer‘, das wir eher als ‚Faustkeil‘ bezeichnen würden. Oder ein Gebäude ein ‚Haus‘, in dem wir eher eine ‚Hütte‘ sehen[8]. So sind in der Alltagssprache eine Vielzahl der Worte konzipiert. Die Vagheit resp. Unschärfe, die daraus resultiert, ist jedoch kein Manko. Ganz im Gegenteil. Sie ist eher die Bedingung der Möglichkeit reibungsloser Kommunikation (würde man z.B. nur das zutreffend als ‚Wasser‘ bezeichnen, was reines H2O ist, gäbe es wohl kaum Wasser auf der Welt). Vagheit ist also nicht Ausdruck eines Wissensdefizits, sondern liegt in der „Logik solcher Begriffe“ (Keller 2018: 121). Allerdings: Vagheit sollte dem alltäglichen Gespräch vorbehalten sein. Im fachwissenschaftlichen Diskurs ist sie nicht angebracht. Da ist Präzision gefragt.
5.
Welche Konsequenzen hat das bisher Gesagte nun für unsere Eingangsfrage Hat Kunst Funktionen? Wir haben festgestellt, dass es sich bei dem Oberbegriff ‚Kunst‘ – sei es nun im Sinne von ‚alle Künste‘ oder nur von ‚bildende Künste‘ –, um ein Abstraktum handelt, das es erst seit dem 18. Jahrhundert gibt. Was bedeutet, dass sowohl die Frage nach dem Wesen der Kunst Was ist Kunst?[9] als auch die Frage, ob Kunst Funktionen hat, sofern sie ebenfalls auf den Oberbegriff ‚Kunst‘ referiert, erst ab diesem Zeitpunkt gestellt werden konnte. Daraus ergeben sich zwei recht triviale Schlussfolgerungen:
a. Der Oberbegriff ‚Kunst‘ ist ein Abstraktum. Einem Abstraktum können generell keine Eigenschaften zukommen. Damit kann ‚der Kunst‘ auch nicht die Eigenschaft ‚Funktion-x-haben‘ zukommen.
b. Da es den Oberbegriff ‚Kunst‘ erst seit dem 18. Jahrhundert gibt, kann ihm auch das Prädikat ‚ist funktional‘ frühestens seit diesem Zeitpunkt zugeschrieben werden.
Auf der Mikroebene individuellen Kunstschaffens haben wir es mit einer anderen Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ zu tun. Sie referiert auf die verschiedenen Resultate künstlerischen Schaffens gleich welcher ontologischen Bestimmung, seien es nun persistierende Entitäten oder transitorische Ereignisse[10]. Bei ihnen handelt es sich – im Gegensatz zum Abstraktum des auf der Makroebene sozialer Institutionen lokalisierten Oberbegriffs ‚Kunst‘ – um Konkreta (cf. zur Differenzierung des Begriffs ‚Kunst‘: Oehm 2019: 84ff.; auch: Oehm 2021a: 15ff., zuletzt erweitert in: Oehm 2023: 356ff.). Diese Konkreta können Eigenschaften haben. Aber auch die Eigenschaft ‚Funktion-x‘? In jüngeren bildtheoretischen Ansätzen wird wie gesagt vielfach den „Bildern die Rolle aktiver Subjekte“ (Grave 2020: 93) zugewiesen, unbelebte Entitäten wie das Werk-Substitut ‚Bild‘ erscheinen dabei als Agens. Solange jedoch nur behauptet wird, dass eine unbelebte Entität imstande ist, selbsttätig zu agieren, aber nicht erklärt werden kann, wie dies geschehen soll, kann in solch einem Konzept nur ein regressiver Animismus gesehen werden. Weshalb es bis zum Beweis des Gegenteils alle Beteiligten bei der Annahme belassen sollten, dass einem Resultat künstlerischen Schaffens allein vermittels eines intentional, bewusst und vorsätzlich, also geplant und zielgerichtet agierenden Handlungssubjekts die Eigenschaft ‚Funktion-x-haben‘ zukommen kann. Die lapidare Konsequenz, die sich daraus ergibt, lautet:
è Das Konkretum ‚Kunst‘ hat aus sich selbst heraus weder Zweck noch Funktion.
Besitzt das Abstraktum ‚Kunst‘ oder das Konkretum ‚Resultat künstlerischen Schaffens aka Werk aka Kunst‘ aber vielleicht die Eigenschaft ‚Funktion-x‘ im Sinne einer wie auch immer ihr inskribierten Funktion? Wohnt ihnen als ‚Zeug‘ also eine – womöglich zeit- und kulturinvariante – Zweckgerichtetheit inne? Dem Abstraktum ‚Kunst‘ als Oberbegriff aller Künste wohl kaum, ist dieser Begriff doch wie gesagt eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Und den diversen Konkreta ‚Kunst‘? In Ermangelung einer auch nur halbwegs plausiblen Erklärung dafür, wie die Einschreibung einer solchen Funktionalität resp. Zweckgerichtetheit in die Resultate künstlerischen Schaffens ohne intentional, bewusst und vorsätzlich, also geplant und zielgerichtet agierende Handlungssubjekte erfolgen könnte, sollten wir auch diesen Gedanken bis zur Vorlage einer solchen Erklärung ad acta legen.
Wie sinnvoll ist es also, weiterhin zu fragen, ob Kunst Funktionen hat? Da wir bei der Betrachtung verschiedener Begriffstypen festgestellt haben, dass wir als Handlungssubjekte ohne Weiteres imstande sind, bestimmten Entitäten ad hoc bestimmte Funktionen zuzuweisen, liegt die Vermutung nahe, dass die Rede von den Funktionen der Kunst nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, unsinnig ist, sondern dass sie einen bestehenden Sachverhalt benennt – ihn allerdings verfälschend wiedergibt: ‚Kunst‘ als Oberbegriff ist ein Abstraktum, kein Konkretum. Ihm kann in keiner Weise eine Eigenschaft und schon gar nicht die Eigenschaft ‚Funktion-x-haben‘ zugeschrieben werden. Und die Konkreta, also die konkreten Resultate künstlerischen Schaffens, auf die die Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ auf der Mikroebene individuellen Kunstschaffens referiert, haben aus sich heraus weder Zweck noch Funktion. Sie sind, im Gegensatz zu uns Menschen, keine Handlungssubjekte und somit auch nicht zu mit Zweck- oder Vorsatzabsichten ausgeführten Handlungen fähig – auch nicht zu solchen wie der Zuschreibung bestimmter Funktionen:
è Der Rede von den Funktionen der ‚Resultate künstlerischen Schaffens aka Werke aka Kunst‘ fehlt das entscheidende Momentum, das Agens: das intelligible Handlungssubjekt.
6.
Konzentrieren wir uns also bei unserem Versuch, eine
schlüssige Antwort auf die Eingangsfrage Hat Kunst Funktionen? zu geben,
im Folgenden darauf, wie erklärt werden kann, dass
a. den Resultaten künstlerischen Schaffens, die aus sich heraus ja alle keine Funktionen haben können, durch uns, den intentional, bewusst und vorsätzlich, also geplant und zielgerichtet agierenden Handlungssubjekten, Funktionen zugeschrieben werden können.
b. künstlerisch Schaffende auf Basis einer Vielzahl von Zweckabsichten vermittels der Resultate künstlerischen Schaffens eine Vorsatzabsicht, also einen Endzweck, ein telos verfolgen können.
Wir wollen im Folgenden versuchen, eine tentative Differenzierung der verschiedenen Modi der Deklaration der Funktionen der Resultate künstlerischen Schaffens durch intelligible Handlungssubjekte zu liefern:
i. Deklaration der Funktion (oder auch mehrerer Funktionen) mittels individuell-intentionaler Zuschreibung durch Rezipient*innen in einem singulären Akt
Diese Zuschreibung kann jederzeit in verschiedensten Kontexten situativ in singulären individuellen Akten erfolgen. Sie kann sich dabei durchaus auch – im Sinne des Konzepts des methodologischen Individualismus, bei dem handelnde Individuen Ausgangspunkt der Erklärung sind (cf. Keller 2014: 164) – strukturell als Auftakt einer episodalen kollektiven Etablierung einer bestimmten Funktionszuschreibung oder auch des Wandels einer zuvor bereits etablierten Funktionszuschreibung erweisen (siehe ii.). Diese können Rezipient*innen für unzutreffend halten und stattdessen eine davon differente Deklaration situativ in einem Gespräch formulieren. Sie können diese differente Deklaration aber auch mit der ambitionierten Vorsatzabsicht formulieren, die aktual kollektiv etablierte Funktionszuschreibung zu revidieren. Streitbare Geister können das Spiel sogar noch weiter treiben und bewusst provokant eine Funktionszuschreibung formulieren, bei der billigend in Kauf genommen wird, dass damit nicht nur intendierte Reaktionen, sondern auch nicht-intendierte Reaktionen hervorgerufen werden.
ii. Deklaration der Funktion (oder auch mehrerer Funktionen) als nicht-intendiertes kollektives, episodales Resultat eines Prozesses unzähliger intentionaler Zuschreibungen durch Rezipient*innen
Aus der Vielzahl gleichgerichteter individuell-intentionaler Zuschreibungen folgt in einem Prozess der unsichtbaren Hand als episodales Ergebnis die nicht-intendierte kollektive Etablierung einer Funktion. An dem Prozess ihrer Etablierung sind jedoch weit mehr als nur die Mitglieder der Kunstwelt beteiligt, zu denen natürlich auch die Urheber der betreffenden Resultate künstlerischen Schaffens, die künstlerisch Schaffenden selbst gehören. Derart monadisch ist unsere Lebenswelt nicht organisiert. An diesem Prozess sind in der einen oder anderen Weise potentiell auch alle anderen in einem definierten Zeitraum in der betreffenden Gesellschaft lebenden und handelnden Individuen beteiligt. So die Rezipient*innen, die die individuelle Funktionszuschreibung von Rezipient*innen goutieren, die uns in i. begegnet ist. Oder die, die diese Funktionszuschreibung in Frage stellen oder sie gar ablehnen. Die eine völlig andere Funktionszuschreibung vornehmen. Die unentschlossen sind. Die keine eigene Meinung haben, sondern sich nur einem Gruppenzwang unterwerfen. Die heute dies und morgen das sagen. Was nun bei all diesen intentional erfolgten individuellen Zuschreibungen am Ende als episodales, nicht-intendiertes kollektives Ergebnis (in einer bestimmten sozialen Gruppe, einer Sprachgemeinschaft, einer Kultur oder gar einer weltumspannenden Kunst-Community), sprich: als allgemein akzeptierte episodale Funktionszuschreibung stehen wird? Wer weiß. Das Einzige, was gewiss zu sein scheint: Institutionen, soziale Strukturen, Systeme, Sprachen und auch solche Funktionszuschreibungen werden im Verlauf solcher Invisible-hand-Prozesse unbeabsichtigt generiert. Das heißt: Am Anfang dieser Prozesse steht keine mit Vorsatzabsicht explizit formulierte und verfolgte Strategie, genau diese Institution, genau diese soziale Struktur, genau dieses System, genau diese Sprache oder genau diese Funktionszuschreibung zu generieren, die dann episodal allgemein akzeptiert wird. Es hat natürlich in der Geschichte der Menschheit unzählige Versuche autoritativer Setzungen unter der Ägide solcher Vorsatzabsichten gegeben. Aber diese haben sich nie als dauerhaft erwiesen und endeten, weil sich unweigerlich ein Invisible-hand-Prozess in Gang setzte, stets anders als das, was mit Vorsatzabsicht geplant war und als Endzweck, als telos formuliert wurde (cf. Merton 1936 passim).
Die Punkte i. und ii. betreffen die intentionale Zuschreibung einer Funktion der Resultate künstlerischen Schaffens durch Rezipient*innen. Sei es durch zweckgerichtete Nutzung, die intentional und geplant, aber auch intentional und unbewusst sein kann, sei es durch einen explizit vollzogenen Akt der Zuschreibung, dem zwar eine zweckgerichtete Nutzung nachfolgen kann, aber nicht nachfolgen muss. Es gibt jedoch ein urheberseitiges funktionales Momentum, das im kunstphilosophischen und kunstwissenschaftlichen Diskurs weitgehend ein Schattendasein führt. Und das, obwohl es sich dabei um die essentielle Bestimmung eines jeden kommunikativen Aktes, also auch um die der künstlerischen Akte künstlerisch Schaffender, handelt:
iii. Künstlerische Akte künstlerisch Schaffender sind kommunikative Akte. Als solche sind sie generell als Akte mit inhärenter Beeinflussungsfunktion deklariert.
Entgegen der landläufigen Auffassung geht es in der Kommunikation nicht vorrangig um Verständigung (cf. Wittgenstein 1977: 17, PU §3). Ein kommunikativer Akt kann der Verständigung dienen, muss es aber nicht. Hingegen ist jeder kommunikative Akt, also auch jeder künstlerische Akt, ein Versuch der Beeinflussung (im weitesten Sinne des Wortes). Die Verständigung stellt somit zwar eine wesentliche, aber doch nur eine von vielen möglichen Formen der Beeinflussung dar: Ich will jemanden dazu bringen, „etwas Bestimmtes zu tun bzw. zu glauben“ (Keller 2014: 65). Diese generelle Beeinflussungsfunktion[11] künstlerischer Akte lässt sich formal so darstellen: Durch x bewirkt ein A bei Bn eine Reaktion y.
Sollte sich dies als eine zutreffende Darstellung erweisen, hieße es, Abschied zu nehmen vom Mythos funktionsloser Kunst. Denn mit dieser Darstellung wird nichts Geringeres behauptet als: Kunst ist per se funktional bestimmt.
iv. Künstlerische Akte künstlerisch Schaffender sind per se als Akte mit genereller Beeinflussungsfunktion deklariert. In der konkreten Realisation – d.h. in den individuell-intentionalen perlokutionären Akten der künstlerisch Schaffenden – ereignet sich die generelle Beeinflussungsfunktion jeweils als spezifische Beeinflussungsfunktion.
Die Deklaration ‚generelle Beeinflussungsfunktion künstlerischer Akte‘ ist die logisch nachgängige Abstraktion jeweils konkreter individuell-intentionaler kommunikativer Akte. Das heißt, es gibt de facto keine generelle Beeinflussungsfunktion künstlerischer Akte, es gibt sie realiter stets nur als eine je spezifische Beeinflussungsfunktion, also als Spezifizierung durch künstlerisch Schaffende in konkreten künstlerischen Akten: A will bei Bn durch x die Reaktion y bewirken resp. A will Bn durch x zu y bewegen
Es gilt demnach: A will die Rezipient*innen Bn durch x, also durch das jeweilige Resultat seines/ihres künstlerischen Schaffens, zu y bewegen. Die Variable y wird im konkreten Vollzug des künstlerischen Aktes durch A jeweils spezifiziert. Diese Spezifizierung bezeichnet das jeweilige konkrete Ziel, das A durch x bei Bn verfolgt.
Diese individuell-intendierte, urheberseitige Beeinflussungsfunktion kann natürlich eben der Funktion entsprechen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur (Sprachgemeinschaft, spezifischen Kunst-Community etc.) als allgemein akzeptierte Beeinflussungsfunktion derartiger Resultate künstlerischen Schaffens gilt. Wobei diese Akzeptanz das episodale, nicht-intendierte kollektive Ergebnis einer Vielzahl gleichgerichteter individuell-intentionaler Zuschreibungen ist (siehe ii.).
Diese Kongruenz würde die Erfolgsaussichten des intentionalen perlokutionäre Aktes von A natürlich deutlich erhöhen. Andererseits kann A aber auch eine Beeinflussungsfunktion intendieren, die radikal von dem abweicht, was bei derartigen Resultaten künstlerischen Schaffens als allgemein akzeptierte Beeinflussungsfunktion gilt. Dies würde die Erfolgsaussichten von A entsprechend schmälern. Es ist aber auch denkbar, dass der intentionale perlokutionäre Akt situativ eine neue oder auch ergänzende spezifische Beeinflussungsfunktion erhält:
v. Künstlerisch Schaffende reagieren auf aktuelle Geschehnisse und schreiben ihrem künstlerischen Akt, der ein individuell-intentionaler perlokutionärer Akt ist, eine situativ-spezifische Beeinflussungsfunktion zu.
Eine situative Änderung der spezifischen Beeinflussungsfunktion kann es analog auch dort geben, wo wir es nicht mit individuell-intentionalen perlokutionären Akten künstlerisch Schaffender, sondern mit kollektiv-intentionalen resp. Wir-intentionalen perlokutionären Akten künstlerisch Schaffender zu tun haben. Diese Wir-Intentionalität beschreibt die phylogenetisch gegebene und ontogenetisch ausgebildete psychologische Infrastruktur des Menschen. Der Bestand dieser dispositionellen Grundverfassung ist die conditio sine qua non für unsere „Beteiligung an spezifisch menschlichen Formen der Zusammenarbeit (…), bei denen ein Subjekt im Plural, ein ‚Wir‘ auftritt: gemeinsame Ziele, gemeinsame Absichten, wechselseitiges Wissen, geteilte Überzeugungen“ (Tomasello 2017: 17). Also dort, wo es um die explizite kollektive Verabredung zu konkreten kooperativen Handlungen in der Synchronie geht:
vi. Künstlerisch Schaffende reagieren gemeinsam auf aktuelle Geschehnisse und schreiben ihrem künstlerischen Akt, der ein Wir-intentionaler perlokutionärer Akt ist, eine situativ-spezifische Beeinflussungsfunktion zu.
Eine solche kollektiv-situative Änderung einer spezifischen Beeinflussungsfunktion ereignete sich 2023 beispielsweise am Arabisch-Hebräischen Theater von Jaffa. Dieses mehrsprachige Theater dient als Bühne für zwei Theatergruppen, die gemeinsam in zwei Sprachen, Arabisch und Hebräisch, arbeiten. Hatten die Resultate künstlerischen Schaffens dieses wunderbaren Projekts bislang schon, um Schmückers Klassifizierung aufzugreifen (cf. Schmücker 2001: 28), neben einer Unterhaltungsfunktion auch eine appellative, emotive und ethisch-explorative Funktion, so haben sich die Theatergruppen angesichts der unvorstellbaren Gräuel während des Pogroms am 07. Oktober 2023 und in den Wochen danach in ihrer Theaterarbeit ein mit Wir-Intentionalität, also mit kooperativ-kollektiver Vorsatzabsicht verfolgtes Ziel gesetzt: Die Aufführungen sollen eine Funktion erhalten, die sich mit Schmücker als ‚dispositive Funktion‘ bezeichnen ließe und „auf die Evokation einer wie immer unbeschwerten Stimmung abzielt“ (ebd.: 29). Was in diesen Tagen, unter diesen tragischen Umständen nichts anderes bedeutet als: Die so abstrakt klingende, nüchterne Klassifizierung ‚dispositive Funktion‘ nimmt konkret Gestalt an als existentielle therapeutische Funktion für die schwer traumatisierten Kinder in einem Konflikt, der nicht ihrer ist[12]. Angesichts der offensichtlichen spezifischen Beeinflussungsfunktion, die diese Resultate künstlerischen Schaffens haben (und die, so kann man nur inständig hoffen, bei den Kindern von Erfolg gekrönt sein wird), stellt sich uns dies formal als Wir-intentionaler perlokutionärer Akt dar: Die Gruppe G will bei Bn durch x die Reaktion y bewirken resp. Die Gruppe G will Bn durch x zu y bewegen.
Scheint Schmücker von einem in gewissem Umfang vorfindlichen Portfolio bereits institutionalisierter Funktionen auszugehen, auf das die künstlerisch Schaffenden und die Rezipient*innen im aktualen Vollzug zugreifen und die entsprechende Funktion wählen können, sieht Amrei Bahr eine funktionskonstituierende Intention sowohl der künstlerisch Schaffenden (siehe iv.), die „creator-intended functions“ (Bahr 2019: 89) generieren, als auch eine der Nutzer*innen und Rezipient*innen, die „user-intended functions“ (ebd.: 90, siehe i.) generieren, gegeben: „Für Artefaktfunktionen ist die Abhängigkeit von Intentionen bewusst handelnder AkteurInnen charakteristisch (…). Funktionen von Artefakten können sowohl von den Intentionen ihrer UrheberInnen, als auch von den Intentionen der NutzerInnen bzw. RezipientInnen der Artefakte abhängig sein“ (Bahr 2013). Und weiter heißt es: „Ein Kunstwerk hat eine bestimmte Kunstfunktion genau dann, wenn entweder der Urheber bei der Erschaffung des Werkes oder ein Rezipient bei der Rezeption des Werkes diese Funktion intendiert und das Kunstwerk die Funktion tatsächlich erfüllt oder prinzipiell erfüllen könnte“ (ebd.). Falls jedoch „ein Urheber oder ein Nutzer eines Artefaktes dieses zu einem Zweck zu nutzen beabsichtigt, zu dem das Artefakt völlig ungeeignet ist, oder wenn die Nutzung des Artefakts zu einem solchen Zweck misslingt, würden wir nicht davon sprechen wollen, dass es eine Funktion des Artefakts[13] sei, dem angestrebten Zweck zu dienen – obwohl die Intention eines bewussten Akteurs vorliegt“ (ebd.).
Das heißt: Auch wenn eine funktionskonstituierende Intention von künstlerisch Schaffenden, Nutzer*innen oder Rezipient*innen vorliegt, ist dieses Kriterium, so Bahr, nicht hinreichend, um sagen zu können, dass das ‚Artefakt‘ die Funktion hat, dem angestrebten Zweck der Akteure zu dienen. Das ‚Artefakt‘ muss auch zu diesem Zweck geeignet sein. Und es muss, sollte dieses ‚Artefakt‘ geeignet sein, zudem die Nutzung zu diesem Zweck gelingen. Doch es stellt sich die Frage: Ist diese Argumentation sattelfest? Wir haben da Zweifel. Wer kann schon verbindlich – und für alle Zeit verbindlich – sagen, dass das Resultat künstlerischen Schaffens die intendierte Funktion prinzipiell erfüllen kann? Wem wird die Kompetenz für eine solche verbindliche Feststellung zugeschrieben – und aufgrund welcher Kriterien? Wer legt die Kriterien für eben diese verbindliche Feststellung fest? Wer ist aufgrund welcher Kompetenzen dazu befugt, eben diese Kriterien festzulegen? Wer formuliert wiederum verbindlich die Kompetenzen, die erforderlich sind, diese Kriterien festlegen zu können? Jede Frage generiert eine Nachfrage, der iterative Regress ist unvermeidlich[14]. Gleiches gilt für die Frage, wer verbindlich – und für alle Zeit verbindlich – sagen kann, dass ein Werk für diese intendierte Funktion gänzlich ungeeignet ist. Was ist mit der Annahme, dass es nicht die Funktion des Resultats künstlerischen Schaffens ist, dem angestrebten Zweck zu dienen, wenn die Nutzung zu diesem intendierten Zweck misslingt? Vielleicht erfüllt es ja nur in diesem einen Augenblick diese Funktion nicht, in jedem anderen aber sehr wohl. Vielleicht ist das Gelingens- resp. Misslingenskriterium ja auch von kultur- und epochenspezifischen Faktoren abhängig. Oder auch von Faktoren, die nur für ganz spezifische Communitys zutreffen. Vielleicht ist aber auch die spezifisch individuelle dispositionelle Grundverfassung der einen oder anderen Nutzer*in oder Rezipient*in aktual oder auch generell so, dass ihr die Nutzung zum intendierten Zweck misslingen kann oder gar muss, obwohl es sich doch – laut einer möglicherweise bestehenden, allgemein akzeptierten episodalen Deklaration – um die Funktion des Resultats künstlerischen Schaffens handelt. Wir können auch nicht – da wir ja nicht wissen, was morgen sein wird – verbindlich sagen, ob die Funktion, die heute als prinzipiell unerfüllbar gilt, nicht vielleicht morgen schon die allgemein akzeptierte Funktion eben dieses Resultats sein wird. Und was ist mit solchen Resultaten, in denen wir heute nicht einmal Resultate künstlerischen Schaffens sehen, sondern bestenfalls Ergebnisse einfallslosen Handwerks? Gelten sie uns derzeit vielleicht nur als schnöder Krempel, gelten sie morgen womöglich einer Kunst-Community, einer Sprachgemeinschaft oder gar einer ganzen Kultur als herausragende Kunstwerke. Wäre die Funktion, die diesem schnöden Krempel später dann gemäß Schmückers Systematik als Kunstwerk zugemessen wird, von an Anfang auf mysteriöse Weise in potentia gegeben? Und wie verhält es sich mit der funktionskonstituierenden Intention, die die Urheber*innen des Krempels schon hatten, als diese noch nicht gemeinhin als Kunstwerke galten? Gestern noch hatte der Krempel, trotz einer urheberseitig bestehenden funktionskonstituierenden Intention, keine Kunstfunktion. Wer hätte da, angesichts ihrer abfälligen Etikettierung als ‚schnöder Krempel‘, behaupten wollen, prinzipiell könne er aber durchaus eine bestimmte Kunstfunktion erfüllen? Und was ist heute, nach der Umetikettierung des Krempels zum ‚Kunstwerk‘? Da soll plötzlich, wie von Geisterhand, das ‚Artefakt‘, das zuvor als völlig ungeeignet für eine Zwecknutzung galt, für eben diese geeignet sein, soll seine Nutzung zu diesem Zweck gelingen? Mir scheint, dass das Kriterium der prinzipiellen Erfüllbarkeit prinzipiell unerfüllbar ist. Es kann, wenn überhaupt, nur idealtypisch gelten resp. nur für einen willkürlich gesetzten, klar definierten Zeitraum in einem klar definierten Kontext einer klar definierten Epoche in einer klar definierten Kultur, Sprachgemeinschaft oder Kunst-Community.
7.
In einem kleinen Exkurs möchte ich einige wesentliche kommunikationstheoretische Aspekte skizzieren, die helfen sollen, unsere Ausgangsfrage angemessen in den komplexen Bezugsrahmen intersubjektiver Verfasstheit einzubetten:
Ich meine mit Wörtern etwas, Wörter bedeuten etwas. Die Bedeutung der Wörter ist gemäß der instrumentalistischen Kommunikationstheorie die Regel ihres Gebrauchs. Das, was ich mit Wörtern meine, nennt Rudi Keller in Abgrenzung dazu „den Sinn der Äußerung“ (Keller 2018: 176). Wie kann nun der Adressat den Sinn der Äußerung, also das, was der Andere meint, eruieren? Hier stellt sich „das Grundproblem des Kommunizierens als Beeinflussungsproblem“ (ebd.: 100) dar: „Wie kriege ich dich dazu, zu erkennen, was ich denke, was ich von dir möchte, was du tun oder glauben sollst?“ (ebd.: 100). Der Andere hat die Möglichkeit, „(m)ittels der Bedeutung der Zeichen (zu versuchen) (…), den Sinn ihrer Verwendung zu entschlüsseln“ (ebd.: 176). Die Voraussetzung dafür, den Sinn der Verwendung der Zeichen entschlüsseln zu können, ist, dass der Andere um die Regel des Gebrauchs weiß, also weiß, „zu welchem Zweck ein Symbol normalerweise regelkonform verwendet wird“ (ebd.: 176) (‚wissen‘ heißt hier ‚implizit wissen‘ [was in etwa Ryles ‚knowing that‘ entspricht], nicht ‚explizit wissen‘ [was in etwa Ryles ‚knowing how‘ entspricht]).
Symptome, Ikone und Symbole lassen sich, so Keller, nach der Weise ihrer Interpretation differenzieren. Man nennt „Zeichen, die mittels regelbasierter Schlüsse interpretiert werden, Symbole“ (Keller 2018: 156), „Zeichen, die mittels assoziativer Schlüsse interpretiert werden, Ikone[15]“ (ebd.: 156) und „Zeichen, die mittels kausaler Schlüsse interpretiert werden, Symptome“ (ebd.: 156; Hervorhebungen S.O.). Bei regelkonform verwendeten Wörtern haben wir es also mit Symbolen zu tun. Aber welchem Zeichentypus sind die Wörter zuzuordnen, mit denen ich etwas meine? Für ihre Interpretation benötige ich zwar zwingend die Kenntnis ihrer Bedeutung, aber der „Sinn der Symbol-okkurrenz“ (ebd.: 176; Hervorhebung S.O.) ist weder mittels kausaler noch assoziativer noch regelbasierter Schlüsse zu erschließen. Hier muss ich mich von der semantischen auf die pragmatische Sprachebene begeben, auf die Ebene des diskursiven Gebrauchs. Auf dieser intersubjektiv grundierten Ebene muss der Adressat die „reflexive Intention“ (Liedtke 2016: 37) des Sprechers erkennen, um verstehen zu können, was dieser meint. Dies setzt aber voraus, dass die Adressaten von sich abstrahieren, die Rolle des anderen übernehmen und die gemeinsame Tätigkeit aus einer Vogelperspektive betrachten können. Was ihnen nur möglich ist dank der bereits erwähnten spezifisch menschlichen, phylogenetisch angelegten und ontogenetisch ausgebildeten psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität (cf. Tomasello 2017 passim). Wenn nun alles – immer eingedenk der unsere Kommunikation grundsätzlich unterlegten Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven (cf. Schütz/Luckmann 1979: 87ff.) – gut gegangen ist, ist das, „(w)as der Adressat versteht, (…) genau das, was der Sprecher meint“ (Keller 2018: 176).
An dieser Stelle sollten wir kurz innehalten, damit uns nicht ein entscheidender Hinweis auf die Antwort auf eine epochale, vermeintlich aporetische Frage entgeht: Was war zuerst da – Henne oder Ei? In unserem Fall: Sinn oder Bedeutung? Gehe ich davon aus, dass die Menschheit für die Interpretation der Wörter immer schon die Kenntnis ihrer Bedeutung, also die Regeln des Gebrauchs, benötigt hat, so komme ich nicht umhin, eine Searle’sche Welt zu imaginieren, in der die Bedeutungen präexistent sind: vom Himmel gefallene Konventionen. Das macht die Sache natürlich einfacher. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass es sich dabei nur um eine Behauptung, nicht aber um eine Erklärung handelt. Weshalb wir uns, anders als Searle u.a., dem Konzept des methodologischen Individualismus verpflichtet fühlen. Es besagt, dass nicht Sprachen, Strukturen, Prozesse oder Kollektive Ausgangspunkt der Erklärung sind, sondern handelnde Individuen (cf. Keller 2014: 164). Dieser Einsicht folgend lässt sich feststellen, dass der Sinn der Bedeutung logisch vorausgeht – erst kam das individuell konstituierte Meinen, dann die kollektiv konstituierte Bedeutung: Wenn ich mit einem Wort etwas meine und ich dieses Wort in eben diesem gemeinten Sinn regelmäßig gebrauche, wird dieser zunächst singuläre Gebrauch bei mir zu einer Regularität. Schließen sich nun andere – aus welchen Gründen auch immer – dieser meiner Regularität an, so kann daraus im Rahmen einer spezifischen Kunst-Community oder gar einer Sprachgemeinschaft episodal eine allgemein akzeptierte Regel des Gebrauchs, also eine Konvention und damit eine neue resp. gewandelte Bedeutung werden (cf. Oehm 2023: 334). Wer nun davon spricht, dass es sich bei dieser ‚allgemeinen Akzeptanz‘ um eine ‚konsensuelle Anerkenntnis‘ handelt, die im ‚intersubjektiven Austausch‘ erzielt wird, legt eine falsche Fährte. Denn diese Formulierungen suggerieren, dass der Konsens das Ergebnis eines mit kollektiver Intentionalität resp. Wir-Intentionalität (cf. Tomasello 2017: 17; auch: Oehm 2021: 171), also von verschiedenen Gruppen und Individuen kooperativ-koordiniert, bewusst und absichtlich, geplant und zielgerichtet vollzogenen Prozesses ist.
Dies zu behaupten, ginge jedoch an der Realität vorbei. Zumal es weder das je individuelle Ziel der an dem Prozess der Bedeutungsgenese Beteiligten (eine Genese, die von ihnen unbemerkt bleibt, vielmehr wird sie als Kontinuität erlebt[16]) noch deren kollektives Ziel ist, eine neue oder auch nur gewandelte Bedeutung – strukturell ausgehend vom Sinn einer einzelnen Äußerung, also von dem, was ich meine – zu generieren. Wer sich im Gebrauch dem Sinn einer Äußerung anschließt, tut dies zumeist aus hemmungslos utilitaristischen Gründen: Er geht bei seinem je individuellen Gebrauch schlicht davon aus, mit dieser neuen oder gewandelten Gebrauchsweise größere Chancen zu haben, das erfolgreich zu kommunizieren, was er kommunizieren will. Mit der Übernahme dieser neuen oder gewandelten Gebrauchsweise glaubt er, dass sich seine Chancen erhöhen, dass der jeweils andere erkennt, was man denkt, was man von ihm möchte oder was er tun oder glauben soll. Mit anderen Worten: dass sich damit die Chancen erhöhen, den jeweils anderen in eben der Weise zu beeinflussen, dass er die intendierte Reaktion zeigt. In toto ergibt sich als kausales, kollektives, nicht-intendiertes Resultat dieser unzähligen gleichgerichteten intentionalen individuellen Handlungen eine neue oder gewandelte Regel des Gebrauchs aka Bedeutung: der klassische Fall eines Invisible-hand-Prozesses. Das Resultat – die neue oder gewandelte Regel des Gebrauchs aka Bedeutung – ist also kein mit Vorsatzabsicht verfolgtes individuelles oder kooperativ-kollektives Ziel, sondern ein ganz und gar unbeabsichtigtes Ergebnis.
Ein analoger Invisible-hand-Prozess läuft ab, wenn einzelne Rezipient*innen mit evaluativem Gestus eine Entität – in unserem Fall: ein Resultat künstlerischen Schaffens – als ‚Kunstwerk‘ deklarieren. Tun sie dies mit schöner Regelmäßigkeit und schließen sich genügend andere dieser Zuschreibung an, steht am Ende dieser unzähligen gleichgerichteten intentionalen individuell-evaluativen Zuschreibungen vielleicht als nicht intendiertes, nicht bewusst verfolgtes, nicht geplantes kollektives Resultat die allgemein-konsensuelle Anerkenntnis, dass diese Entität episodal in einer bestimmten Kultur, Gesellschaft, Sprachgemeinschaft, sozialen Gruppe und/oder Kunst-Community als Kunstwerk gilt[17]. Eine auf diese Anerkenntnis rekurrierende und mit ihr korrespondierende nachgängige individuelle Aussage würde dann, im Gegensatz zu der vorgängigen individuellen Zuschreibung, die den strukturellen Ausgangspunkt dieses Prozesses darstellt, nicht mehr mit evaluativen, sondern mit deskriptiven Gestus[18] erfolgen. Erfolgt diese nachgängige individuelle Zuschreibung hingegen in einer Weise, die mit der allgemein-konsensuellen Anerkenntnis nicht korrespondiert, sondern ihr womöglich sogar ganz bewusst widerspricht, erfolgt sie nicht mit deskriptivem, sondern wiederum mit evaluativem Gestus. Diese nachgängige individuell-evaluative Zuschreibung wie auch die vorgängige individuell-evaluative Zuschreibung befinden sich auf der Ebene des Sinns einer Äußerung; die kollektiv-deskriptive Zuschreibung hingegen befindet sich auf der Ebene der Bedeutung der Wörter (zur Differenzierung des Werkbegriffs sowie der Bestimmung, wann etwas als ‚Kunstwerk‘ gilt: cf. Oehm 2019: 194ff, auch: Oehm 2023: 219ff.).
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[1] Jan Müller konstatierte 2007 in seiner Vorrede zum Interdisziplinären Forschungskolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes ‚Funktionen von Kunst‘: „Die Frage nach möglichen und tatsächlichen Funktionen von Kunst und Kunstwerken ist deshalb so attraktiv, weil sie eine Bresche systematischer Argumentation in das gleichermaßen ehrwürdige und notorische Dickicht ebenso hartnäckiger wie widersprüchlicher Bestimmungen von ‚Kunst‘ schlägt.“ Die fast unüberschaubar lange Liste der Literatur, die sich in den letzten rund 40 Jahren allein im deutschsprachigen Raum diesem fast schon notorisch virulenten Themenkomplex gewidmet hat, zeigt, dass zwar eine Bresche in jenes Dickicht geschlagen wurde – jedoch um den Preis, dass im Zuge dessen ein neues, nicht weniger dichtes Dickicht gewachsen ist. Es sei hier nur eine Auswahl der wichtigsten Aufsätze, Monographien und Sammelbände zu diesem Thema genannt: Werner Busch (Hg.) (1987): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen Bd. 1 u. 2, Piper Verlag, München; Bernd Kleinmann/Reinhold Schmücker (Hg.) (2001): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (darin u.a.: Reinold Schmücker: Funktionen der Kunst); Interdisziplinäres Forschungskolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes: Funktionen von Kunst, 5.-7. Oktober 2007, Centre Marc Bloch Berlin; Daniel Martin Feige/Tilmann Köppe/Gesa zur Nieden (Hg.) (2009): Funktionen von Kunst, Paperback, Verlag Peter Lang, Berlin; Winfried Menninghaus (2011): Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M.; Amrei Bahr (2013): Funktionen der Kunst, in: Kulturelle Bildung online, online unter: https://www.kubi-online.de/artikel/funktionen-kunst (zuletzt abgerufen: 25. Oktober 2023); Stefan Deines (2017): Über die Funktionen der Kunst und die Relevanz der Kunstphilosophie, in: Juliane Rebentisch (Hg.), Denken und Disziplin. Workshop der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (2017), Olav Krämer (2019): Kommunikative Funktion oder Autonomie? Der Werkbegriff in neueren intentionalistischen Interpretationstheorien, in: Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Das Werk – Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs; Judith Siegmund (2019): Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert, Verlag J. B. Metzler, Heidelberg; Birgit Eusterschulte/ Christian Krüger/ Judith Siegmund (Hg.) (2021): Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken. Verlag J. B. Metzler, Heidelberg (darin u.a. Georg W. Bertram: Die Funktionalität der Kunst? Für einen revidierten Begriff künstlerischer Autonomie und auch: Judith Siegmund: Funktionen der Künste? Eine Differenzierung); Bernadette Collenberg-Plotnikow (2022): Funktionen der Künste, in: Judith Siegmund (Hg.): Handbuch Kunstphilosophie, transcript Verlag, Bielefeld; Judith Siegmund (2022): Zweck/Zweckfreiheit, in: Judith Siegmund (Hg.): Handbuch Kunstphilosophie, transcript Verlag, Bielefeld.
[2] Oft genug nimmt man das Wort für bare Münze und behandelt den ‚Gegenstand‘ der Betrachtung wie einen handgreiflichen Gegenstand, auch wenn es sich bei ihm – wie im vorliegenden Fall – nicht um ein Konkretum, sondern um ein Abstraktum handelt. Deshalb beschränke ich meine Gebrauchsweise des Wortes Gegenstand weitgehend auf die Kennzeichnung physischer Entitäten (wo ich ihn im übertragenen Sinne benutze, setze ich ihn in Anführungsstriche: ‚Gegenstand‘). In meinem Sprachgebrauch wäre demnach der Begriff ‚konkreter Gegenstand‘ ein Pleonasmus, der Begriff ‚abstrakter Gegenstand‘ eine contradictio in adiecto.
[3] Natürlich ist dies eine entschieden nominalistische Position, die hier vertreten wird. Wer hingegen eine entschieden realistische Position vertritt und Abstrakta in platonischer Tradition eine faktische Existenz zubilligt, wird an diesen Ausführungen nur wenig Freude haben.
[4] Das Wort Kunst generiert zahlreiche verschiedene Begriffe ‚Kunst‘ (cf. die systematische Differenzierung der Begriffe ‚Kunst‘ in: Oehm 2019, insbesondere 84ff.; auch: Oehm 2021a: 15ff., zuletzt erweitert in: Oehm 2023: 356ff.). In der hier gestellten Frage wird ‚Kunst‘ im Sinne eines Oberbegriffs benutzt. Wobei dessen Gebrauch in der Literatur in der Regel zwischen zwei voneinander zu differenzierenden Fällen changiert: zwischen ‚Kunst‘ als allgemeine überindividuelle soziale Institution, die alle Künste umfasst (von der bildenden Kunst, den darstellenden Künsten, der Musik bis zur Literatur) und ‚Kunst‘ als spezifische überindividuelle soziale Institution (auf dieser Ebene des Gebrauchs, der die jeweilige Kunstgattung betrifft, wird selbst im wissenschaftlichen Diskurs der Kunstbegriff zumeist auf die bildende Kunst beschränkt). Ergänzend sollte an dieser Stelle gesagt werden, dass es sich weder bei dem einen noch bei dem anderen Begriff ‚Kunst‘ um ein, wie gerade in der Nachfolge Reinhart Kosellecks gerne behauptet wird (cf. Koselleck 2021: 66ff., zuletzt Kösser 2017: 70; aktuell: Drügh 2022: 52, auch: Kleesattel 2022: 661), Kollektivsingular handelt. ‚Kunst‘ als Oberbegriff ist vielmehr ein nicht zählbares Substantiv (ein sog. nicht diskretes Nomen). Bei einem Kollektivsingular steht das Wort im Singular, obwohl es einen Plural gibt (wie ‚das Weib‘ in Und immer lockt das Weib, dem Klassiker des französischen Films mit Brigitte Bardot und Curd Jürgens). Von einem nicht zählbaren Substantiv lässt sich hingegen kein Plural ohne eine qualitative Bedeutungsänderung bilden. Wie in diesem Fall (cf. Oehm 2023: 344ff., auch: Oehm 2021e). Sehen wir einmal von dieser terminologischen Ungenauigkeit ab, sollten wir auf eine bemerkenswerte zeitliche Koinzidenz aufmerksam machen: Just zu dem Zeitpunkt, als sich der Obergriff ‚Kunst‘ im 18. Jahrhundert entwickelte, bildeten sich, wie Koselleck konstatiert, auch einige Dutzend geschichtliche Grundbegriffe wie ‚der Staat‘, ‚die Freiheit‘, ‚der Fortschritt‘ oder ‚die Geschichte‘ (Koselleck 2021: 66ff.; Koselleck prägte für diese geschichtliche Phase den Begriff ‚Sattelzeit‘).
[5] Goodman/Elgin machen darauf aufmerksam, dass wir „eine Vielfalt von Vokabularen und Kategoriensystemen (besitzen), die unterschiedliche Möglichkeiten bieten, in denen Dinge getreu (…) beschrieben werden können“ (Goodman/Elgin 1993: 19). Damit zwingen wir mit unserem Denken „einem Gebiet ebenso sehr Ordnung auf, wie es Ordnung in ihm ausfindig macht“ (ebd.: 19). Je nachdem, wie wir die Dinge klassifizieren, sehen wir sie: Klassifiziert ein System ausschließlich mit Primärfarben, so „wird ein bestimmter Vogel korrekterweise blau genannt“ (ebd.: 20). Differenziert ein System zudem Indigo und Blau, mag die Farbe des Vogels als ‚Indigo‘, nicht aber als ‚Blau‘ etikettiert werden. Und in einem dritten System, das Indigo als Nuance von Blau auffasst, kann die Farbe des Vogels sowohl als ‚Indigo‘ als auch als ‚Blau‘ etikettiert werden. Aus dieser Perspektive betrachtet erweist sich ‚Blau‘ als ein Begriff mit unscharfen Rändern, also als ein Begriff, dem im Gebrauch keine scharfen Grenzen gezogen sind (cf. Keller 2018a: 136ff., auch: Wittgenstein 1977: 58, PU §68). Was spricht dagegen, dass der Begriff ‚massiv‘‘ auch zu dieser Kategorie gehört? Sollte dies der Fall sein, stünde der Wahrheitsanspruch der Aussage ‚Der Hammer ist massiv‘ natürlich zur Disposition. Aber dies ist Thema eines anderen Diskurses.
[6] Natürlich finden wir auch bei nichtmenschlichen Hominiden, bei bestimmten Vogelarten oder auch bei Seeottern Formen eines gezielten Werkzeuggebrauchs. Bei bestimmten nichtmenschlichen Hominiden finden wir zum Teil sogar Vorformen der Werkzeugherstellung. Aber es konnte noch kein nichtmenschlicher Hominide dabei beobachtet werden, wie er das herstellt, was wir einen ‚Hammer‘ nennen. Auch konnte noch kein Vertreter dieser Spezies beobachtet werden, wie er altruistisch für seine Artgenossen etwas herstellt, was in irgendeiner Weise als Werkzeug dienen kann. Ebenso wenig konnte bisher ein nichtmenschlicher Hominide dabei beobachtet werden, wie er Artgenossen gezielt im Gebrauch eines Werkzeugs unterweist. Dies alles ist, so unser gegenwärtiger Kenntnisstand, allein dem Homo sapiens vorbehalten.
[7] Das Phänomen, wie unzählige gleichgerichtete intentionale individuelle Handlungen gänzlich unbeabsichtigte kollektive Folgen zeitigen können, ist in der Fachliteratur als ‚Invisible-hand-Prozess‘ bekannt. Dieser Begriff geht auf den schottischen Nationalökonomen Adam Smith zurück, der ihn in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen einführte (Smith 1978: 371) und letztlich auf das Modell von Bernard de Mandeville zurückgeht, das dieser vor über 300 Jahren in seiner bitterbösen Schrift Die Bienenfabel formuliert hat. Auch Karl Marx nimmt in seiner Abhandlung Abschweifung über produktive Arbeit explizit Bezug auf Mandevilles Modell: „Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, (…) ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.“ (Karl Marx, Theorien über den Mehrwert I. MEW 26.1, 363ff.). Die Theorie des Sprachwandels, die Rudi Keller in seinem Werk Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache formulierte, orientiert sich ebenfalls an diesem von Mandeville und Smith beschriebenen Phänomen (Keller 2014 passim). Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton führte 1936 in seinem Aufsatz The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action systematisch aus, wie nicht nur Mephistos böse Handlungen gute Strukturen erzeugen können, sondern auch, wie tugendhafte Intentionen Konsequenzen zeitigen können, die den bestehenden guten Absichten zuwiderlaufen. Merton nannte dies das ‚Gesetz der unbeabsichtigten Folgen‘ sozialer Handlungen. Heute ist es als Erklärungsmodell in der politischen Philosophie, der Soziologie wie auch in der Wirtschaftswissenschaft Standard.
[8] Ganz in diesem Sinne schreibt der Kulturjournalist Philipp Holstein in einem Artikel über die Doku-Serie Beckham: „Da versammeln sich die Beckhams in Davids Hütte, die er am See seines Landsitzes neben dem Fußballplatz gebaut hat und so groß ist, dass andere Menschen sie als Haus bezeichnen würden“ (Holstein 2023).
[9] Die Philosophin Amrei Bahr weist darauf hin, dass mit der Frage „nach den Funktionen derjenigen Entitäten, die Vorkommnisse von Kunst sind (…) zugleich die Kardinalfrage der philosophischen Ästhetik aufgeworfen (ist), die Frage nämlich, deren Beantwortung die Bedingung der Möglichkeit darstellt, überhaupt philosophische Ästhetik zu betreiben: Was ist Kunst?“ (Bahr 2013). „In der kunstphilosophischen Diskussion ist“, so führt sie weiter aus, „nicht nur strittig, wie sich diese Frage nach dem Wesen der Kunst überzeugend beantworten lässt, sondern auch, ob eine Antwort darauf überhaupt möglich ist“ (ebd.). Ein aus meiner Sicht gänzlich müßiger Streit. Denn von dem Umstand einmal abgesehen, dass die Frage nach dem Wesen der Kunst vor dem 18.Jhdt. aus erwähntem Grund gar nicht gestellt werden konnte: Ihre Beantwortung zielt notwendigerweise auf die Komprehension aller Kunstgattungen und künstlerischen Schöpfungen, also auf die Gesamtheit aller vergangenen, bestehenden wie auch – spätestens hier wird es heikel – zukünftigen Künste und Schöpfungen in allen Kulturen. Der einzige Begriffstypus, der all diese Kriterien erfüllt, ist der „Fregesche Begriff“ (Keller 2018: 120). Ein rigid designator, mit dem Entitäten wie ‚Gold‘ oder ‚Wasser‘ benannt werden, deren Definition immer, überall und in allen Welten gilt. Nach dem Wesen der Kunst kann also nur dann sinnvoll gefragt werden, wenn der Begriff ‚Kunst‘ – zumindest im wissenschaftlichen Kontext – wie die Begriffe ‚Gold‘ und ‚Wasser‘ als ‚Fregescher Begriff‘ klassifiziert werden kann (cf. Oehm 2019: 301ff.). Die entscheidende Frage lautet demnach: Kann ‚Kunst‘ so klassifiziert werden?
[10] Zu der Frage nach der ontologischen Bestimmung dessen, was allgemein unter dem Begriff ‚Werk‘, also den Resultaten künstlerischen Schaffens, subsumiert wird, siehe ausführlich Oehm 2023 passim.
[11] In seinem Aufsatz Funktionen der Kunst bietet uns der Philosoph Reinold Schmücker eine systematisch differenzierte, gleichwohl noch vorläufige Übersicht über die von ihm eruierten Funktionen der Kunst (cf. Schmücker 2001: 28). Unter diesen Funktionen findet sich eine Kategorie, die ein wenig aus dem Rahmen zu fallen scheint, da sie sich explizit über die Reaktionen der Rezipient*innen auf die künstlerischen Akte definiert: die dispositiven Funktionen. „Dispositiv nenne ich diejenigen Funktionen, die ein Gefühl, eine Verhaltensweise oder eine Disposition zu einem bestimmten Verhalten hervorrufen oder verstärken“ (ebd.: 29; cf. Oehm 2021d: 137). Mir scheint, dass dies dem recht nahe kommt, was wir die Beeinflussungsfunktion perlokutionärer Akte nennen (siehe iii. und iv.), während die übrigen von Schmücker genannten Funktionen eher denen nahe kommen, die durch Deklaration episodal ins Leben gerufen werden (siehe i. und ii.).
[12] Die Ereignisse haben diesen Text längst überholt. Was diesen Satz aber nicht falsifiziert, sondern seine Gültigkeit vielmehr maximal erweitert: um alle Kinder, die in diesem völlig absurden Konflikt, der durch eine schiere Ausweglosigkeit gekennzeichnet zu sein scheint, schwer traumatisiert werden.
[13] Auch in den besten kunstwissenschaftlichen und kunstphilosophischen Texten schleichen sich immer wieder terminologische Unschärfen ein. So auch in Amrei Bahrs Aufsatz Funktionen der Kunst. Ihr Thema sind, das sagt bereits der Titel, die ‚Funktionen der Kunst‘. Doch entpuppt sich die Frage nach den ‚Kunstfunktionen‘ schnell als Frage, ‚ob Kunstwerken Funktionen zukommen‘. Eine Frage, die im Verlaufe des Textes dann aber als Frage nach den ‚Artefaktfunktionen‘ wiederkehrt – und bald darauf als Frage, ‚ob der Urheber ‚bei der Erschaffung des Werkes (…) diese Funktion intendiert‘: Eine klare Differenzierung der Begriffe ‚Kunstwerk‘, ‚Artefakt‘ und ‚Werk‘ findet hier nicht statt, sie werden synonym verwendet.
[14] Ersichtlich ist diese Argumentation der fallibilistischen Philosophie Hans Alberts und damit der Ablehnung von Letztbegründungsansprüchen verpflichtet (Albert 1991/2010 passim, insbesondere 43f. und 264ff.).
[15] Zeichentheoretisch betrachtet geht es in der Ikonografie, die sich mit der Deutung von oftmals absichtlich komplizierten und verrätselten Motiven in Werken der bildenden Kunst befasst, also nicht um Ikone, sondern eher um Symbole.
[16] Für dieses Phänomen hat, darauf wies mich Rudi Keller hin, der Romanist Helmut Lüdtke den Begriff „Stafettenkontinuität“ geprägt.
[17] Schmücker unterscheidet in einem seiner zentralen Aufsätze – Funktionen der Kunst (2001) – indes zwischen dem, wann etwas als Kunstwerk gilt, und dem, wann etwas ein Kunstwerk ist. Was als Kunstwerk gilt, das entscheidet die Sprachgemeinschaft im intersubjektiven Konsens (da stimme ich ihm, wird dies nicht als mit Wir-Intentionalität vollzogener Prozess verstanden, zu). Was ein Kunstwerk ist, das entscheidet hingegen die generelle kunstkonstitutive Funktion, denn es sei „der Besitz der kunstästhetischen Funktion, der ein Artefakt zu einem Kunstwerk macht“ (Schmücker 2001: 24). Allerdings ist es, so Schmücker weiter, keineswegs so, „dass bestimmte Artefakte aufgrund irgendwelcher Eigenschaften gleichsam von Natur aus Kunstwerke wären“ (ebd.: 25). Vielmehr entscheidet am Ende in einem intersubjektiven evaluativen Konsens dann doch wieder die Sprachgemeinschaft, „das allgemeine Kunstverständnis“ (Oehm/Schmücker 2021: 3), darüber, ob ein Artefakt „diese Funktion erfüllen kann“ (Schmücker 2001: 25), ob also von bestimmten Artefakten gesagt werden kann, „dass sie (…) Kunstwerke sind“ (ebd.: 25). Wobei dies aber, wie Schmücker einschränkend zugesteht, „kein präzises Kriterium (ist), anhand dessen sich im Streitfall entscheiden ließe, ob ein Artefakt ein Kunstwerk ist oder nicht“ (ebd.: 25). Zumal „die Klasse der Kunstwerke stets einen Zeitindex trägt“ (ebd.: 25). Kunstwerke seien eben Kunstwerke „in unserer Kultur und zu unserer Zeit“ (ebd.: 25): „Wenn ich von einer kunstkonstitutiven Funktion spreche, dann kann ich eine solche Funktion strenggenommen also immer nur für eine bestimmte Kultur – zum Beispiel die okzidentale Kultur – und entweder für das Jetzt oder für einen bestimmten historischen Moment konstatieren“ (Oehm/Schmücker 2021: 4). Es stellt sich die Frage, was an der kunstkonstitutiven Funktion ‚kunstkonstitutiv‘ sein kann, wenn es am Ende stets die Sprachgemeinschaft ist, die – episodal und kulturvariant – alles entscheidet. Meine These lautet: nichts. Die einzige Frage, die hier m.E. sinnvoll gestellt werden kann, ist, wie eine bestimmte Sprachgemeinschaft diese episodalen ‚Entscheidungen‘ trifft, wie sich also ein allgemeines Kunstverständnis episodal etabliert. Eine Frage, die schon Karlheinz Lüdeking gestellt, aber nicht beantwortet hat (Lüdeking 1998: 203). Auf diesen gap weist uns Schmücker hin: „Unklar bleibt dabei jedoch, wie dies geschieht“ (Schmücker 2014: 106). Allerdings bleibt uns auch Schmücker die Antwort auf diese Frage schuldig (eine schlüssige Antwort darauf gibt uns, so meine These, der bereits mehrfach erwähnte Prozess der unsichtbaren Hand).
[18] In ihrem Aufsatz Funktionen der Kunst (2013) differenziert Amrei Bahr den Gestus der Zuschreibung in gleicher Weise: „Deskriptiv verwenden SprecherInnen den Kunstbegriff genau dann, wenn der von ihnen als Kunst bezeichnete Gegenstand gemäß einem weitreichenden intersubjektiven Konsens innerhalb einer Sprachgemeinschaft als Kunst gilt. Evaluativ wird der Kunstbegriff hingegen genau dann gebraucht, wenn SprecherInnen einen Gegenstand als Kunst bezeichnen, dessen Kunstcharakter in einer Sprachgemeinschaft nicht konsensuell anerkannt ist, um damit einem subjektiven Werturteil Ausdruck zu verleihen“ (Bahr: 2013; Hervorhebungen S.O.). Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich ein entscheidender Unterschied: Sie konstatiert den weitreichenden intersubjektiven Konsens innerhalb einer Sprachgemeinschaft, sie erklärt aber nicht, wie es zu diesem Konsens kommt. Gleiches gilt für die Frage, wie sich Kunstfunktionen konstituieren und etablieren.