Über die eine und andere Mär in den Geisteswissenschaften
und ihre erstaunliche Resilienz
I.
Man sollte annehmen, dass es in den Geisteswissenschaften zum guten Ton gehört, nicht Topoi, Thesen und Theorien zu kolportieren, die sich nicht oder nur bedingt mit der bestehenden Faktenlage in Einklang bringen lassen. Doch dem ist nicht so. Immer wieder stößt man in der Fachliteratur auf die eine oder andere Mär, die erstaunliche Resilienz zu besitzen scheint. Statt diese Mären ein für alle Mal als kulturhistorische Anekdoten zu rubrizieren, werden sie oftmals völlig unkritisch und ohne jeden Hinweis auf Erkenntnisse von Autor*innen, die den tatsächlichen Sachverhalt längst beschrieben haben, in den jeweiligen Diskursen perpetuiert. Aus welchen Gründen auch immer. So gilt der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure „(g)ut ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des Cours de linguistique générale (…) noch immer weithin als der ‚revolutionäre Begründer‘ des Strukturalismus“ (Jäger 2018: 11). Ihm wird „(d)iese Rolle (…) vor allem als ‚Autor‘ einer Publikation zugeschrieben, die er weder verfasst, noch publiziert hat“ (ebd.: 11). Vielmehr ist besagte Publikation, der Cours de linguistique générale, von Saussures „Genfer Kollegen Charles Bally und Albert Sechehaye unter Verwendung von Schülermitschriften der Genfer Vorlesungen, die Saussure zwischen 1907 und 1911 zur allgemeinen Sprachwissenschaft gehalten hatte, konzipiert, verfasst und publiziert worden“ (ebd.: 11). Mehr noch: Wie Sechehaye später selber einräumte, „stützte sich (ihr Editionskonzept) nicht nur auf lediglich einen Teil der Hörermitschriften, sondern es unterwarf dieses zudem einem eigenen ‚systematischen Plan‘, einer eigens entwickelten ‚Methode‘“ (ebd.: 12), die, so betont Sechehaye ausdrücklich, „nicht auf F. de Saussure zurückgeht“ (ebd.: 12, Kursivierung SO; der Kulturwissenschaftler Ludwig Jäger zitiert hier aus Charles Sechehayes Aufsatz L’ école genevoise de linguistique générale[1]). Ob, wie Jäger optimistisch verkündet, heute tatsächlich „aus der mythologischen Erzählung des strukturalistischen Gründungsnarrativs zunehmend eine nur noch historische Erzählung“ (ebd.: 24) geworden ist, sei einmal dahingestellt. Fakt ist jedenfalls, dass zumindest populärwissenschaftliche Abhandlungen und Nachschlagewerke bis heute kaum Notiz vom Status quo der Forschung[2] nehmen.
II.
Der britische Sprachphilosoph John L. Austin gilt gemeinhin als Begründer der Sprechakttheorie, sein Buch How to do Things with Words gewissermaßen als deren Gründungsurkunde. Austin differenziert dort zunächst zwei Äußerungstypen, konstative und performative Äußerungen, um dann im Verlaufe der Schrift innezuhalten, „to go farther back for a while to fundamentals“ (Austin 1962: 94).[3] Was für ihn in diesem Fall bedeutet: zurückzugehen zu einer Trias der Sprechakte, der Lokution, Illokution und Perlokution. Damit hat, so die nahezu einhellige Auffassung der Wissenschaftsgemeinde, Austin die Dichotomie, die Unterscheidung von konstativen und performativen Äußerungen, „wieder aufgegeben“ (Rolf 2009: 10). Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte spricht sogar davon, dass Austin „den einleitend aufgebauten Gegensatz von Konstativa und Performativa kollabieren“ lässt (Fischer-Lichte 2019: 32). Nun muss man aber wissen, dass How to do Things with Words auf jenen zwölf Vorlesungen basiert, die Austin 1955 als William James Lectures in Harvard gehalten hat. Als Buch erschienen diese Vorlesungen jedoch erst posthum im Jahr 1962, also ganze sieben Jahre später und zwei Jahre nach Austins frühem Tod 1960. Hätte Austin nun tatsächlich, wie Fischer-Lichte sagt, die Dichotomie von Konstativa und Performativa kollabieren lassen, so wäre wohl davon auszugehen, dass sie nach 1955 kaum mehr eine Rolle in seinen Überlegungen gespielt hätte. Doch weit gefehlt: Ein Jahr nach den William James Lectures, 1956, hält Austin in der BBC einen Vortrag mit dem Titel Performative Utterances[4]; drei Jahre später, 1958, auf der Konferenz über analytische Philosophie in Royaumont einen Vortrag mit dem Titel Performatif – Constatif [5] und sogar noch vier Jahre später, 1959, in Göteborg einen Vortrag mit dem Titel Performatives. Welcher Begriff in all diesen Vorträgen wider Erwarten jedoch gar nicht mehr auftaucht, ist ausgerechnet der, der für Austin angeblich „fortan eine Dimension jedweden Sprechens bezeichnet“ (Krämer 2019: 333): der Begriff der Illokution. Dieser befremdliche Aspekt wird in der Fachliteratur, soweit ich sie überblicken kann, völlig ignoriert. Warum? Orientieren sich die betreffenden Autor*innen vielleicht irrigerweise an dem Erscheinungsjahr von How to do Things with Words (1962) und nicht an dem Jahr, in dem die Textvorlage in den William James Lectures vorgetragen wurde (1955)? Sehen sie in How to do Things with Words deshalb so etwas wie den Abschluss von Austins sprechakttheoretischen Überlegungen und den Beginn einer neuen Phase? Wer weiß. Gewiss ist allein: Es wird in der Sekundärliteratur weiterhin nicht dem Begriff ‚Performativ‘, sondern dem Begriff ‚Illokution‘ die Rolle des zentralen Terminus der Austin’schen Sprechakttheorie zugedacht. Und es wird dort weiterhin der Trias von Lokution, Illokution und Perlokution das Wort geredet, wo Austin doch lediglich sagt, dass sich die Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr aufrechterhalten lässt. Will vice versa sagen: In einer modifizierten Form kann sie durchaus noch Bestand haben.[6]
III.
Ganze Generationen
von Philosoph*innen haben sich an Georg Friedrich Wilhelm Hegels mythenumrankten
Verdikt vom Ende der Kunst abgearbeitet. Bis zum heutigen Zeitpunkt.[7] Was
doch recht erstaunlich ist angesichts des Umstands, dass „bisher noch nicht
einmal Einigung darüber erzielt werden konnte, ob es überhaupt eine
Hegelsche Rede vom Ende der Kunst gibt“, wie die Philosophin Eva Geulen
schreibt (Geulen 2002: 22). Als gesichert kann aber zumindest gelten, dass
„(d)ie Formulierung vom ‚Ende der Kunst‘ (…) weder in den Vorlesungen zur
Ästhetik (auftaucht) noch in den anderen einschlägigen Texten Hegels zur
Kunst, der Enzyklopädie und der Phänomenologie des Geistes“ (ebd.: 23).
Und wenn man weiß, dass Hegel seine wichtigsten ästhetischen Schriften, die
vier Berliner Ästhetik-Kollegien, nicht selbst, sondern sein Schüler Heinrich
Gustav Hotho auf Basis dessen eigener Mitschriften ab 1835 posthum publiziert
hat, dann muss gesagt werden, dass das „Ende der Kunst folglich auch in einem
editionstechnischen Sinne nur gerüchteweise existiert“ (ebd.: 23). Doch die
bestehende Sachlage kann nicht verhindern, dass der Topos ‚Ende der Kunst‘
weiterhin fröhlich Hegel zugeschrieben wird.[8], [9]
IV.
Dass der Begriff ‚Artworld‘ auf den amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto zurückgeht, ist gängige Auffassung im kunstwissenschaftlichen Diskurs. Er führte ihn, so die Legende, mit seinem 1964 im Journal of Philosophy erschienenen Text ‚The Artworld‘ ein. Nicht zu bestreiten ist, dass die Rezeption von Dantos Aufsatz – nicht zuletzt durch George Dickie – diesen Begriff derart popularisierte, dass er heute aus dem Kunstdiskurs nicht mehr wegzudenken ist. Aber dies ändert nichts an dem Umstand, dass er nicht auf Danto zurückgeht: Tatsache ist, dass bereits 1916 in New York ein Kunstjournal publiziert wurde, dessen erste Ausgabe durch einen Aufsatz des seinerzeit sehr renommierten amerikanischen Bildhauers und Kunstkritikers F. Wellington Ruckstuhl What ist Art? A Definition eingeleitet wurde. Der Titel dieses Fachjournals lautete: The Art World.[10] Soweit ich die Literatur überblicken kann, fehlt jeder sachdienliche Hinweis auf dieses Journal. Gleiches gilt für jene Artikel-Serie, die 1899 den an Kunst interessierten Leser*innen der amerikanischen Zeitschrift The Art Collector alle 14 Tage einen Überblick über The Art World (so der Titel dieser Artikel-Serie) vermittelte.[11]
V.
Etwas anders gelagert ist der Sachverhalt bei dem Konzept, das mit dem Begriff ‚Familienähnlichkeiten‘ (engl. family resemblances) unverbrüchlich verbunden ist und das, so die Mär, auf Ludwig Wittgenstein zurückgeht. In seiner Schrift Philosophische Untersuchungen (PU) führt Wittgenstein den Begriff ‚Familienähnlichkeiten‘ in den einschlägig bekannten §§65-69 ein: „Denn wenn du sie (: die Spiele, Anm. SO) anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe“ (PU §66) – „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ (ebd.). Und weiter: „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen“ (PU §67). Als Anfang der 1950er Jahre im anglo-amerikanischen Kunstdiskurs zunehmend die Frage gestellt wurde, ob Kunst definiert werden könne und wenn ja, wie, war es Morris Weitz, der 1956 in seinem Aufsatz The Role of Theory in Aesthetics das Wittgenstein’sche Konzept wie auch den Begriff der Familienähnlichkeiten aufgriff. Er stellte sich damit der, wie Daniel Whiting mit George Dickie sagt, „‘most well known and most reprinted’ challenge to the project of defining art” dar (Whiting 2022: 1075). Sein Einfluss zumindest auf den anglo-amerikanischen Kunstdiskurs kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: „Indeed, theorizing about art has since been divided into pre- and post-Weitzian eras” (ebd.: 1075).[12]
Dass die Anwendung des Wittgenstein’schen Konzepts der Familienähnlichkeiten auf die Kunst ohne Zweifel einen bestechenden Reiz hat, ist unbenommen. Nur war das Konzept von Wittgenstein anders gedacht, als es von seinen kunstphilosophischen Apologeten verstanden wurde: Zahlenarten bilden eine Familie (PU §67 u. §68: „Kardinalzahl, Rationalzahl, reelle Zahl, etc.“), ebenso „die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw.“ (PU §66). Familienähnlichkeiten bestehen für ihn also stets zwischen den Mitgliedern einer Familie, so zum Beispiel zwischen den Mitgliedern der Familie ‚Brettspiele‘ wie etwa Schach, Dame oder Mühle, nicht aber beispielsweise zwischen den konkreten 14 Partien Schach, die 1921 der damalige Schachweltmeister Emanuel Lasker gegen José Raúl Casablanca bei seiner fehlgeschlagenen Titelverteidigung in Havanna spielte. Wittgenstein spricht also nicht über Familienähnlichkeiten zwischen konkreten Spiel-Vorkommnissen (Token), auch nicht über die korrekte Identifizierung bestimmter Token als Mitglied einer Familie bestimmter Spiele; er spricht in den PU vielmehr die Familienähnlichkeiten zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie ‚Brettspiele‘ an. Und, auf einer höheren Ebene, auch die zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie ‚Spiele‘. Auf den Kunstdiskurs angewandt bedeutet dies: Versteht man den Terminus ‚Familienähnlichkeiten‘ im Sinne Wittgensteins, so fragt man dort u.a. nach Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie ‚bildende Kunst‘, also zwischen ‚Gemälde‘, ‚Skulptur‘, ‚Installation‘, ‚Fotografie‘ etc. Und, auf einer höheren Ebene, auch zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie ‚Künste‘, also zwischen ‚bildende Kunst‘, ‚darstellende Kunst‘, ‚Literatur‘, ‚Musik‘ etc. Es geht dabei jedoch nicht – zumindest nicht in einem ersten Schritt – um die Frage der Familienähnlichkeiten zwischen konkreten Werken der Familie ‚bildende Kunst‘, also nicht um mögliche Familienähnlichkeiten zwischen Michelangelos David, Caravaggios Der ungläubige Thomas, Manets Frühstück im Grünen, Duchamps Fountain, Warhols Brillo Box und Gurskys Rhein II: Wittgensteins Konzept der ‚Familienähnlichkeiten‘ referiert auf die Ebene der Arten, Typen und Klassen, nicht auf die Ebene der Vorkommnisse (Token).
Nun aber zurück zu besagter Mär, dass auch das Konzept der ‚Familienähnlichkeiten‘, das hinter dem Begriff ‚Familienähnlichkeiten‘ steht, Ludwig Wittgensteins originäre Erfindung sei. Zweifellos haben sich von Margaret Macdonald über Morris Weitz bis hin zu Berys Gaut alle auf den Spiritus Rector der analytischen Sprachphilosophie berufen. Jedoch hätte spätestens seit 1961 allen aktiv und passiv an diesem Diskurs Beteiligten bekannt sein können, wenn nicht gar müssen, dass dieses Konzept keine originäre Erfindung Wittgensteins war. Denn in diesem Jahr veröffentlichte der amerikanische Philosoph Jerome Stolnitz im Journal of the History of Ideas einen Aufsatz mit dem Titel ‚Beauty‘: Some Stages in the History of an Idea. Darin weist er auf einen Gedankengang des schottischen Philosophen und Mathematikers Dugald Stewart hin, der nicht nur ausgewiesenen Wittgensteinianern recht vertraut erscheinen dürfte:
“Stewart undertakes to explain the ‘great variety of acceptations’ of ‘the word Beauty’ and he comes up with a scheme much like Wittgenstein's ‘family resemblances.’ Given objects A, B, C, D, E, Stewart points out that A may have a quality in common with B, B with C, C with D, and D with E, ‘while, at the same time, no quality can be found which belongs in common to any three objects in the series.’" (Stolnitz 1961: 202; cf. Stewart 1816: 262).[13]
Wem dieser Aufsatz und damit auch dieser Hinweis seinerzeit vielleicht entgangen ist, hätte ihn jedoch spätestens 1963 zur Kenntnis nehmen können. Denn da erschien im renommierten Journal of Aesthetics and Art Criticism der Aufsatz The Uses of Works of Art des schwedischen Kunsthistorikers Teddy Brunius, in dem dieser – auf Stolnitz verweisend – schrieb:
“In fact, by way of this hypothesis Dugald Stewart offers us an instrument for analysis. Today it is in vogue in the Oxford "movement" in philosophy, but Wittgenstein rather than Dugald Stewart is thought to be its originator. It is called an analysis of ‘family resemblances’. Tradition offers us a bundle of properties, and the frequency of one or many of these properties in works of art will change according to fashion. If we assume this to be true, we have good reason to study works of art in their most concrete appearances, not abstracting from such works one common property or merely a few frequently occurring properties.” (Brunius 1963: 125).
Die Hinweise von Stolnitz und Brunius sind weitgehend vergessen, zumal außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums. Die Mär hingegen feiert ein ums andere Mal fröhliche Urständ.
VI.
Besonders mythisch umflort ist der Begriff ‚Kunst‘. Jeder benutzt ihn. Und jeder benutzt ihn so, als wüssten jeder, worüber er oder sie redet.[14] Mehr noch: Jeder benutzt den Begriff ganz im Sinne der Konzeption der „Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven“ (Gropper/Schnettler 2020: 10; cf. Schütz/Luckmann 1979: 88ff.): „Ich verlasse […] mich darauf, daß mein Gesprächspartner das Wort in derselben Art und Weise verwendet, daß wir also eine Sprache teilen“ (Auer 1999: 119). Auf den österreichischen Soziologen Alfred Schütz geht die Einsicht zurück, dass erst „pragmatisch motivierte […] Idealisierungen“ wie die „Vertauschbarkeit der Standpunkte“ (Schütz/Luckmann 1979: 88) und die „Kongruenz der Relevanzsysteme“ (ebd.: 88) uns einen relativ reibungslosen Vollzug der lebenspraktischen Dinge des Alltags ermöglichen: Solange wir im Gebrauch des Begriffs keinen Dissens erleben, stellen wir diesen Gebrauch auch nicht in Frage. Völlig unabhängig von der Faktenlage.
Um der daraus resultierenden allzu laxen Verwendung des Begriffs ‚Kunst‘, die selbst in Fachkreisen die Regel ist, eine Gebrauchsschärfe entgegenzusetzen, die für den wissenschaftlichen Diskurs unerlässlich ist, habe ich mich an anderer Stelle sowohl um eine systematische Differenzierung der verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst (siehe Oehm 2021a: 29ff., auch in Oehm 2021b: 4ff., Oehm 2019a: 83, 92ff. sowie Oehm 2019b: 10ff.) als auch um eine systematische Differenzierung der Begriffstypen bemüht (siehe Oehm 2019a: 117ff.). Dies scheint mir schon deshalb erforderlich zu sein, weil wir, wenn wir uns die Gretchenfrage des Kunstdiskurses Was ist Kunst? stellen, die unselige Neigung haben, uns intuitiv an dem Konzept ‚unum nomen, unum nominatum‘ zu orientieren: Wo Kunst drauf steht, steckt auch Kunst drin.[15] Es ist dies der Wunsch nach einem „gemeinsamen Nenner (…), der die Definition der Kunst bildet“ (Kennick 2002: 55). Und bisweilen wird in einem nachgerade essentialistischen Reflex dieser – vermeintliche – gemeinsame Nenner sogar als das Wesen der Kunst verklärt.
Fragen wir nach der Gemeinsamkeit dessen, was unter den Begriff ‚Kunst‘ fällt, fragen wir – zumindest in der rigiden Form des Konzepts – nach der Gemeinsamkeit der Komprehension, der „Menge aller möglichen (der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen) Gegenstände, die unter einen Begriff fallen“ (Keller 2018: 119). Damit hätten wir es, behaupten wir diesen rigiden Begriffstypus, mit einem zeit-, welt- und kulturinvarianten Begriff ‚Kunst‘ zu tun: Er wäre von der Art, die ewig gelten würde, immer und überall – Kunst wäre dann ein rigid designator wie H2O oder Gold.
Unabhängig, wie man nun dazu steht: Diese unselige Neigung, einen gemeinsamen Nenner zu vermuten, ist wider Erwarten kein Phänomen, das uns bei der Frage Was ist Kunst? seit der Antike begleitet. Schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil es den Oberbegriff ‚die Kunst‘ vor dem 18. Jahrhundert noch gar nicht gab. Was vice versa bedeutet: Besagte Frage kann frühestens seit diesem Zeitpunkt gestellt werden. Mit dem Oberbegriff ‚die Kunst‘ wurde im 18. Jahrhundert der Terminus technicus geprägt, der das künstlerische Schaffen in all seinen Dimensionen und Facetten umfasst, der „ein allen Künsten gemeinsames Prinzip vertritt“ (Kösser 2017: 70) und begrifflich in „ein Zusammendenken der Künste zu die Kunst“[16] (ebd.: 69) mündet. Hier müssen wir noch auf eine bemerkenswerte zeitliche Koinzidenz aufmerksam machen: Just zu der Zeit, als der Oberbegriff ‚die Kunst‘[17] entstand und Eingang in den Sprachgebrauch fand, häufen sich, wie Reinhart Koselleck konstatiert, „neue Begriffe, die die alte in eine neue Wirklichkeit transformieren helfen“ (Koselleck 2021: 67). So wurde „aus den Fortschritten (…) ‚der Fortschritt‘, aus den Geschichten ‚die Geschichte‘“ (ebd.: 68, Kursivierung SO), aus den Staaten ‚der Staat‘ und aus den Freiheiten ‚die Freiheit‘. Für Koselleck ist dies Ausweis einer „neuzeitlich gesteigerten Abstraktion und universalen Verallgemeinerung der Begriffe“ (ebd.: 85; Koselleck prägte für diese geschichtliche Phase den Begriff ‚Sattelzeit‘).
Auch die Frage Was ist Kunst? im Sinne von Was ist das Wesen der Kunst? kann demnach erst seit dem 18. Jahrhundert gestellt werden.[18] Wenn nun aber Konsens besteht, dass das als das ‚Wesen‘ verstanden wird, was ist, ohne zu sein, unwandelbar und unauflöslich, gestern, heute und morgen gleich, dass es zeit- und kulturinvariant und womöglich wie ein rigid designator auch weltinvariant ist, so stellt sich die Frage: Hat man im 18. Jahrhundert mit ‚der Kunst‘ etwas entdeckt, was zwar immer schon Bestand hatte, wovon der Mensch aber zuvor kein Wissen und demnach auch keine Vorstellung hatte und es infolgedessen auch kein Wort gab, das diese Vorstellung hätte bezeichnen können? Oder ist dieses Wesen doch nur eine Hypothese, ein Wunschbild derer, die nicht ohne Hoffnung auf eine ewige Entität leben können?
Aber ganz egal, ob es dieses ominöse Wesen der Kunst nun tatsächlich gibt oder nicht, ob ‚Kunst‘ als rigid designator aufgefasst wird, ob versucht wird, Kunst über Familienähnlichkeiten oder über ein Cluster-Konzept, über einen typentheoretischen, multikulturellen, funktionalen oder aber prozeduralen resp. institutionellen Ansatz zu definieren oder ob konstatiert wird,[19] Kunst sei nicht zu definieren: Die Frage Was ist Kunst? zielt stets auf das nicht zählbare Substantiv ‚die Kunst‘ ab. Doch wonach auch immer dabei gefragt wird: Keine Realdefinition ohne Nominaldefinition. Sprachlos definieren geht nun einmal nicht. Wir müssen dabei stets Begriffe benutzen. Und diese Begriffe können wir nicht einfach als fraglos gegeben hinnehmen, wir müssen sie zuvor klären.[20] Das heißt in diesem Fall: Die Aussicht auf eine seriöse und erschöpfende Beantwortung der Frage Was ist Kunst?, die im Idealfall mit einer Definition ‚der Kunst‘ einhergeht, ist nur dann gegeben, wenn – und hier kehren wir wieder zu dem zurück, was wir eingangs dieses Kapitels gesagt haben – Klarheit über den Begriff ‚Kunst‘ herrscht, der Gegenstand der Definition sein soll. Was uns gleich zur ersten und entscheidenden Frage führt: Wie lautet die Extension dessen, was wir ‚die Kunst‘ nennen?
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[1] Charles Sechehaye (1927): L’ école genevoise de linguistique générale, in: Indogermanische Forschungen 44 (1927), 217–241.
[2] Hier nur einige wenige Beispiele: http://www.glottopedia.org/index.php/Ferdinand_de_Saussure_(de), https://www.sofatutor.com/deutsch/videos/saussures-zeichenmodell,
https://www.spektrum.de/lexikon/philosophen/saussure-ferdinand-de/295
[3] John L. Austin (1962): How to do things with Words, London: Oxford University Press. Online unter: https://pure.mpg.de/rest/items/ item_2271128_6/component/file_2271430/content, zuletzt abgerufen am 20.05.2024.
[4] John L. Austin (1956/1986): Performative Äußerungen, in: John L. Austin: Gesammelte philosophische Aufsätze, Reclam Verlag, Stuttgart
[5] John L. Austin (1958/1968): Performative und konstatierende Äußerungen, in: Rüdiger Bubner (Hg.): Sprache und Analysis – Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
[6] Wenn also Erika Fischer-Lichte in ihrem Opus magnum Die Ästhetik des Performativen einen bis heute nachhallenden performative turn in den Künsten der 1960er Jahren, eine Abkehr vom Werk und Hinwendung zum Ereignis konstatiert und dabei ihren zentralen Begriff des Performativen explizit auf Austin zurückführt, so muss dieser Rückgriff angesichts der Faktenlage neu bewertet werden (cf. Fischer-Lichte 2019 passim).
[8] Hegel spricht nicht vom Ende der Kunst, sondern lediglich vom „Ende der romantischen Kunstform“ (Hegel 1977: 670). Und dieses Ende stellt sich, wenn auch von ihm negativ bewertet, eher als Beginn einer befreiten Kunst dar: „Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann. Der Künstler steht damit über den bestimmten konsekrierten Formen und Gestaltungen und bewegt sich frei für sich, unabhängig von dem Gehalt und der Anschauungsweise, in welcher sonst dem Bewußtsein das Heilige und Ewige vor Augen war“ (ebd.: 674, vgl. Gebauer 2022).
[9] Ein Phänomen ähnlicher Art liegt bei Immanuel Kants wirkmächtigem Diktum vom ‚interesselosen Wohlgefallen‘ vor. Auch dies existiert in einem editionstechnischen Sinne nur gerüchteweise. Kant spricht in der Kritik der Urteilskraft zwar mehrfach von einem Wohlgefallen, das „ohne alles Interesse“ (so in Kant 1979: 116 u. 124) ist, und auch von einem „uninteressierten Wohlgefallen“ (ebd.: 117), aber eben nicht explizit vom ‚interesselosen Wohlgefallen‘. Darauf weist auch schon Werner Strube in seinem Aufsatz INTERESSELOSIGKEIT: Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Ästhetik hin: „Kant spricht wie Riedel stets vom uninteressierten und nicht vom interesselosen Wohlgefallen. Spätere Ästhetiker haben sich offenbar an dem Hebungsprall gestoßen, der in „uninteressiert" vorliegt, und mit „interesseloses Wohlgefallen" eine Wendung gefunden, die im Rhythmus und Klang (s. die Assonanz!) gefälliger ist als die entsprechende ältere Wendung“ (Strube 1979: 163, Anm. 87). Allerdings scheint sich auch der sprachanalytisch geschulte Strube nicht die Frage gestellt zu haben, ob denn der Begriff ‚ohne alles Interesse‘ resp ‚uninteressiert‘ und der Begriff ‚interesselos‘ synonym sind – und auch nicht, was dies, sollte es nicht der Fall sein, für das Verständnis dieses Grundbegriffs der Ästhetik bedeuten würde (immerhin hat Ernst Cassirer Kants Lehre vom ,interesselosen Wohlgefallen‘ als das wichtigste Einzelresultat bezeichnet, mit dem dieser die Ästhetik bereichert hat).
[10] Zugang über: https://archive.org/details/jstor-25587966
[11] Zugang z.B. über: https://www.jstor.org/stable/43894719, https://www.jstor.org/stable/43893426, https://www.jstor.org/stable/43894740 ,https://www.jstor.org/stable/43894752
[12] Nur am Rande sei erwähnt, dass Daniel Whiting hier seinerseits mit einer Mär aufräumt. In seinem Aufsatz Margaret Macdonald on the Definition of Art weist er überzeugend nach, dass nicht Morris Weitz, sondern „Margaret Macdonald was in fact the first Wittgenstein-influenced aesthetician—indeed, the first philosopher of any persuasion—to articulate in print all of what are taken to be the central ideas of Weitz’s paper” (Whiting 2022: 1075). Mehr noch: Sie war es, die Weitz den sprachanalytischen Pfad wies, auf dem er spätestens ab 1956 wandelte.
[13] „I shall begin with supposing that the A, B, C, D, E, denote a series of objects; that A posses some one quality in common with B; B a quality in common with C; C a quality in common with D; D a quality in common with E; – while, at the same time, no quality can be found which belongs in common to any three objects in the series. Is it not conceivable, that the affinity between A and B may produce a transference of the name of the first to the second; and that, in consequence of the other affinities which connect the remaining objects together, the same name may pass in succession from B to C; from C to D; and from D to E? In this manner, a common appellation will arise between A and E, although the two objects may, in their nature and properties, be so widely distant from each other, that no stretch of imagination can conceive how the thoughts were led from the former to the latter.” (Stewart 1816: 262ff.)
[14] Cf. Stefan Oehm: Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg.
[15] Darauf wies der amerikanische Philosoph William E. Kennick bereits in seinem 1958 in Mind 67 veröffentlichten Aufsatz Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake? hin: Die Annahme, „daß alle Kunstwerke trotz ihrer Unterschiede eine gemeinsame Natur haben, eine spezifische Menge von Charakteristika aufweisen, die dazu dient, die Kunst von allem anderen zu unterscheiden (…) ist sowohl natürlich als auch beunruhigend“ (Kennick 2002: 55). Denn wir gebrauchen, so Kennick weiter, „das Wort ‚Kunst‘, um auf eine große Anzahl sehr unterschiedlicher Dinge Bezug zu nehmen: Bilder, Gedichte, Kompositionen, Skulpturen, Vasen und eine Unmenge anderer Sachen – und doch ist es ein Wort. Zweifellos neigen wir dazu zu sagen, daß ihnen allen etwas gemeinsam sein muß, andernfalls gäben wir ihnen nicht denselben Namen. Unum nomen, unum nominatum“ (ebd.: 55). Wir differenzieren nicht scharf genug ‚Wort‘ von ‚Begriff‘ (so ist es auch hier: Die ‚Eigenschaft‘ eines Abstraktums ist, trotz Wortgleichheit, etwas anderes als die Eigenschaft eines Konkretums – ‚die Kunst‘ kann nie in eben dem Sinne autonom sein wie es eine Künstlerin sein kann. Und ‚der Grizzly‘ kann nun mal nicht brummen, das kann nur ein real existierender Grizzly).
[16] Auch so eine Mär: ‚Die Kunst‘ ist ein sogenanntes ‚nicht zählbares Substantiv‘ und nicht, wie oftmals zu lesen ist, ein ‚Kollektivsingular‘ (cf. Koselleck 2021: 66ff., Kösser 2017: 70; aktuell: Drügh 2022: 52, auch: Kleesattel 2022: 661). Ein nicht zählbares Substantiv ist ein Begriff, von dem sich kein Plural ohne qualitative Bedeutungsänderung bilden lässt. Wie eben in diesem Fall. Bei einem Kollektivsingular wie ‚das Weib‘ im – heute äußerst chauvinistisch empfundenen – deutschen Titel Und immer lockt das Weib des berühmten französischen Films von 1956 mit Brigitte Bardot und Curd Jürgens Et Dieu… créa la femme ist dies hingegen problemlos möglich.
[17] Ein Aperçu am Rande: Gäbe es den neuen allgemeinen Kunstbegriff nicht, hätte es Hegels vermeintlichen Topos ‚Ende der Kunst‘ gar nicht geben können – mit ihm ist angeblich Anfang des 19 Jahrhunderts das Ende von etwas beschworen worden, was erst im 18. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt hat.
[18] Cf. Reinold Schmücker, einer der wohl renommierteste deutschen Kunstphilosophen unserer Tage, erweist sich als Platoniker, wenn er in seinem prägenden Buch Was ist Kunst? Eine Grundlegung schreibt: „Was ist Kunst? Die Frage wird in diesem Buch so verstanden, daß sie nach dem Wesen der Kunst fragt: danach, was Kunst Kunst sein läßt“ (Schmücker 2014: 13).
[19] Im anglo-amerikanischen Raum haben sich, spätestens seit 1956 – dem Jahr, als Morris Weitz seinen Aufsatz The Role of Theory in Aesthetics publizierte – ganze Generationen von Kunstphilosoph*innen an der Frage abgearbeitet, wie Kunst definiert werden kann. Befremdlich genug, dass, wie Katharina Bahlmann/Daniel M. Feige zurecht konstatieren, Arthur C. Danto und Nelson Goodman „zu den wenigen Vertretern der angloamerikanischen Ästhetik (gehören), die auch in Deutschland intensiv rezipiert worden sind“ (Bahlmann/Feige 2014: 133). Noch befremdlicher ist jedoch, dass selbst Roland Bluhms und Reinold Schmückers ambitionierte Initiative, diese in der anglo-amerikanischen Kunstphilosophie breit und kontrovers diskutierte Thematik dem deutschsprachigen Fachpublikum zumindest ansatzweise näherzubringen, keine auch nur annähernd vergleichbare Resonanz zeitigte (Roland Bluhm/Reinold Schmücker [Hg.] [42017]: Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik, Mentis Verlag, Paderborn). Der kontinentaleuropäische Diskurs erscheint – etwas zugespitzt formuliert – wie abgekoppelt von dem anglo-amerikanischen Diskurs, der, zumindest in diesem Kontext, die Standards setzt.
[20] Der Versuch einer Klärung dieser Begriffe kommt natürlich seinerseits auch nicht ohne Begriffe aus. Da diese ihrerseits aber auch wieder klärungsbedürftig sind und wir beim Versuch ihrer Klärung erneut wieder Begriffe benutzen müssen, die klärungsbedürftig sind, endet das Ganze, wenn wir dem nicht ein willkürliches Ende bereiten, in einem iterativen Regress.