Montag, 31. August 2020

 

Der Gegenwart

 

Der Prozess des Lebens ist eingebettet in ein Kontinuum, das, nach derzeitiger Lehrmeinung der Wissenschaft, seinen Anfang in der kosmischen Inflation der Singularität, dem Urknall, nahm und in diesem einzigartigen Ereignis aus einem Punkt Raum und Zeit konstituierte. Bei der physikalischen Zeit handelt es sich nach allem, was wir wissen, demnach um ein lineares, gerichtetes, irreversibles Momentum, das de facto nur reine Dauer, aber keine Etappen kennt, die durch einen bezeichneten Anfang sowie ein bezeichnetes Ende definiert sind. Was so theoretisch klingt, hat praktisch dramatische Auswirkungen. Denn wenn wir bei dem Kontinuum, das wir als ‚physikalische Zeit‘ kennen, von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit reden, so nutzen wir, ohne dass es den meisten bewusst ist, drei Begriffe, die drei verschiedenen Begriffstypen zuzuordnen sind: Die ‚Zukunft‘ als das, was kommen wird, ist, auch wenn sie bislang immer eingetreten ist, reine Spekulation (das Problem ist bekannt als ‚Humes Induktionsproblem‘) – wer weiß, ob nicht schon morgen ein kosmisches Ereignis ähnlichen Ausmaßes wie das des Urknalls dem ganzen Spuk ein Ende bereiten wird? Die ‚Gegenwart‘ ist in diesem steten Fluss reiner Dauer lediglich als ein von den verschiedenen Sprechern natürlicher Sprache ad hoc  definierter Zeitraum, als eine willkürlich begrenzte Etappe, als episodales Ereignis gegeben – tatsächlich rauscht aber die Zukunft ungebremst durch sie hindurch in die Vergangenheit (der Großteil des Hier und Jetzt, das wir Gegenwart nennen, liegt übrigens bereits in der Vergangenheit). Die ‚Vergangenheit‘ ist demnach die einzige Größe, die für uns fassbar ist. Da aber die Zeit, soweit wir wissen, irreversibel ist, entzieht sich ausgerechnet diese einzig fassbare Größe unserer Erfassbarkeit: Wir können keine verifizierbaren Aussagen über sie machen, alles muss prinzipiell Hypothese bleiben. So bleibt festzuhalten: Die Zukunft ist ungewiss, die Gegenwart eine Chimäre, die Vergangenheit nicht erfassbar. Nur kollidiert unser subjektives Zeitempfinden, das uns Zeit stets als gegenwärtige Zeit erleben lässt, mit jener linearen Zeit, unter deren Diktat wir heute leben. Und die eben das nicht kennt, worin wir leben: Gegenwart.

Samstag, 29. August 2020

 

Ich weiß nicht, dass ich nicht weiß

 

Wer das Absolute verneint und behauptet, alles Wissen sei relativ, der argumentiert nahe an der Widersprüchlichkeit. Denn wer diese Behauptung aufstellt, nimmt nicht einfach nur an, dass alles Wissen relativ sei, sondern er erhebt im starken Sinne der Behauptung auch Anspruch auf zeitinvariante und damit generelle, mithin also absolute Wahrheit dieser Aussage (würde ich es behaupten, ohne diesen Anspruch zu erheben, würde es sich bei der Behauptung bestenfalls um eine These handeln). Wer nun aber seriös diesen Anspruch erhebt, kann dies nur tun, wenn er gleichzeitig auch darum weiß, dass er den Anspruch erhebt, dass diese Aussage wahr ist (das heißt: nicht ‚temporär wahr‘, sondern zeitinvariant, ewig, absolut). Und dieses Wissen muss, wenn alles Wissen relativ ist, relativ sein. Nehmen wir nun einmal an, die Aussage ‚Alles Wissen ist relativ‘ sei wahr: Kann ein Wissen um die absolute Wahrheit dieser Aussage selber relativ sein? Und kann ich, da ich implizit ja das Bestehen des Absoluten behaupte, wenn ich im starken Sinne behaupte, alles Wissen sei relativ, das Absolute verneinen? Verneine ich das Absolute, so kann ich nicht behaupten, die Aussage ‚Alles Wissen ist relativ‘ sei wahr. Würde ich das tun, so würde ich behaupten, im Besitz absoluten Wissens zu sein. Damit würde ich aber das Absolute nicht verneinen, sondern bejahen. Wenn ich also das Absolute verneine, kann ich nicht gleichzeitig behaupten, dass alles Wissen relativ ist. Und, vice versa, wenn ich behaupte, dass alles Wissen relativ ist, kann ich nicht gleichzeitig das Absolute verneinen. Bestenfalls kann ich vermuten, dass es zum Einen das Absolute nicht gibt wie auch zum Anderen, dass alles Wissen relativ ist. Wenn dem so ist, dann ist auch das Wissen um die Wahrheit der Aussagen, dass es das Absolute nicht gibt und dass alles Wissen relativ ist, relativ. Doch wenn auch dieses Wissen relativ ist, ist dann nicht vielleicht, ohne dass wir es je wissen werden, unser Wissen gar nicht relativ, sondern absolut? Wer weiß…