Dienstag, 2. Juli 2024

 

Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? –

Im Gebrauch lebt es.[1]

 

 

Was sind Wörter? Abstrakte Entitäten, mentale Zustände oder aber Bündel von Eigenschaften? Tokens eines Peirce’schen Type? Sind sie nur als ausgesprochene Wörter existent oder womöglich gar nicht? Oder sind dies alles unzureichende Ansätze, wenig zielführende intellektuelle Spitzfindigkeiten? Bei dem Versuch, eine plausible Antwort zu finden, wollen wir uns von zentralen sprachpragmatischen Überlegungen des preußischen Universalgelehrten Wilhelm von Humboldt inspirieren lassen, denen radikale Konsequenzen inhärent sind, die, so die These, wir uns bis heute scheuen zu ziehen.

 

 

I.

Humboldt vertrat die Auffassung, dass es sich bei der Sprache nicht um eine persistierende physische Entität handelt, auf die wir im gegenständlichen Sinne des Wortes jederzeit zugreifen können: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes“ (Humboldt 1979: 418). Sie ist also ein transitorisches Ereignis, allein „in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (ebd., 418) gegeben. Demnach hat sie nirgends, „auch in der Schrift nicht, eine bleibende Stätte, ihr gleichsam todter Theil muss immer im Denken aufs neue erzeugt werden, lebendig in Rede oder Verständnis“ (ebd.: 438). „Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)“ (ebd.: 418). Für Humboldt ist also „nur das wirklich gedachte oder gesprochene Wort […] das eigentliche Wort, das sich gleichsam tot in der Sprache forterbende nur die immer wieder und immer etwas anders belebte Hülle“ (Humboldt 1903: 422). Ihr eigentliches Dasein hat die Sprache „bloss in der Thätigkeit des jedesmaligen Hervorbringens“ (Humboldt 1903: 393; u. ders. 1979, 418), ihre wahre Individualität liegt „nur in dem jedesmal Sprechenden […]. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit.“ (Humboldt 1979: 439). Demgegenüber ist „[d]as Zerschlagen in Wörter und Regeln […] nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung“ (ebd.: 419), erscheint die Sprache „als ein durch die Wissenschaft gebildetes Abstractum“ (ebd.: 420)[2].

 

Zwei Aspekte, die für uns von besonderer Bedeutung sind, fallen sogleich ins Auge: zum einen der transitorische Aspekt, der die Sprache als jedesmalig aufs Neue hervorgebrachte Entität definiert, die also keinen Bestand, sondern nur einen Verlauf im Vollzug hat, zum anderen der Aspekt der inhärenten Gebundenheit der Sprache an ein sie gebrauchendes menschliches Agens. Der erste Aspekt betont implizit die Nachrangigkeit der geschriebenen Sprache. Dieser Umstand dürfte unstrittig sein. Es ist davon auszugehen, dass dem modernen Menschen seit seinem ersten Auftauchen vor etwa 300.000 Jahren lediglich Gesten[3] und Gebärden, gesprochene Worte und später auch Ritzungen, Zeichnungen oder Statuetten zur Verfügung standen, um sich zu verständigen, sich gegenseitig zu beeinflussen oder auf Dinge aufmerksam zu machen. Um anderen Geschichten zu erzählen oder Kenntnisse zu vermitteln. 300.000 Jahre, in denen niemand jemals etwas für sich selbst, für andere oder für nachfolgende Generationen im heutigen Sinne schriftlich fixieren und so bewahren konnte. Wann sich nun die ersten Notationssysteme als Aufzeichnungs-, Weitergabe- und Erinnerungsmedien entwickelten, lässt sich kaum exakt datieren. Manche halten die in China gefundenen Schriftzeichen, deren Entstehung auf etwa 6600 v. Chr. geschätzt wird, für die ersten Schriftzeichen der Menschheit überhaupt. In Südosteuropa gefundene Zeichen werden auf etwa 5.500 v. Chr. datiert. Wobei nicht einmal zweifelsfrei gesichert ist, ob es sich bei ihnen überhaupt um Schriftzeichen handelt. Als einigermaßen gesichert kann lediglich gelten, dass ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien Schriftzeichen im hochkulturellen Kontext systematisch verwendet wurden – jedoch nicht als Medium der Literatur, sondern, ganz profan, als Medium der Buchführung und Verwaltung. Aber selbst heute gilt das, was einst galt und nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft gelten wird: Die geschriebene Sprache macht im Vergleich zur gesprochenen Sprache nur einen verschwindend geringen Teil der tagtäglich weltweit gemachten sprachlichen Äußerungen aus. Und selbst wenn wir es nun mit geschriebenen Wörtern gleich welcher Schrift zu tun haben: Liegen geschriebene Wörter vor, ohne dass sie gelesen werden, so werden sie nur ‚mumienartig‘ aufbewahrt. Sie sind gleichsam ‚todt‘. Erst im Moment ihres Gebrauchs durch uns werden diese ‚todten‘ Wörter zum Leben erweckt, sogleich in Sprachspielen und Lebenswelten kontextualisiert und damit zu dem, was sie für uns sind: zu Wörtern. Sind wir nicht imstande, diese gleichsam ‚todten‘ Wörter als das zu erkennen, was sie für diejenigen sind, die in der entsprechenden Lebenswelt sozialisiert wurden – nämlich als ‚Wörter‘ –, so sind sie für uns nicht einmal mehr mumienartig aufbewahrte, todte Wörter, sondern lediglich amorphe Kleckse. Gäbe es niemanden oder niemanden mehr, der sie zum Leben erwecken kann, so wären diese amorphen Kleckse als persistierende Substitute transitorischer Ereignisse nur noch das, was wir an anderer Stelle ‚ens[4] genannt haben (vgl. Oehm 2023b: 221–232).

 

Damit sind wir auch schon bei dem zweiten entscheidenden Aspekt, auf den Humboldt uns aufmerksam gemacht hat und der untrennbar mit dem ersten verbunden ist: Sprache bedarf, um Sprache zu sein, grundsätzlich eines menschlichen Agens, das die Sprache, in welcher Form auch immer, gebraucht. Sprache ist also nur „in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (ebd., 418), sie hat ihr Dasein „bloss in der Thätigkeit des jedesmaligen Hervorbringens“ (Humboldt 1903, 393; vgl. ders. 1979, 418). Und das bedeutet nichts anderes als: Sprache ist als Sprache ausschließlich in dem Moment gegeben, wo sie durch uns hervorgebracht wird. Sie hat ihr Dasein allein in unserem Gebrauch, durch unseren Gebrauch und während unseres Gebrauchs. Oder in Humboldts eigenen Worten: „Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung“ (Humboldt 1979, 418), um zu sein muss sie „immer im Denken aufs neue erzeugt werden (muss), lebendig in Rede oder Verständnis“ (ebd., 438). Der ontologische Status der Sprache (und damit der Wörter resp. des Textes) ist demnach der eines transitorischen Ereignisses, prinzipiell gebunden an den Vollzug durch das jeweils vollziehende Individuum: Wird Sprache nicht gebraucht, ist sie nicht. Wie auch immer dieser Gebrauch nun aussehen mag: gedacht, geschrieben, gelesen oder gehört – ohne uns sind Texte keine Texte, Wörter keine Wörter, Zeichen keine Zeichen, sondern nur amorphe Kleckse.

 

Gebrauch heißt stets auch Kontextualisierung. Und diese erfolgt auf Basis unseres Weltwissens, unserer spezifischen dispositionellen Grundverfassung sowie der strukturell kooperativ erfolgten Sozialisation im Rahmen unserer phylogenetisch angelegten und ontogenetisch ausgebildeten psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität (vgl. Tomasello 2017 passim). Im Rahmen dieser Kontextualisierung werden uns die Texte zu Texten, die Wörter zu Wörtern, die Zeichen zu Zeichen – aber dies auch nur für eben die Dauer unseres jeweiligen Gebrauchs und damit unserer jeweiligen Kontextualisierung. Auch die in diesem Aufsatz vorfindlichen amorphen Kleckse erhalten ihren vorübergehenden Status als ‚Wörter‘ allein aufgrund der aktual perzipierenden Aktivität der jeweils diesen Aufsatz lesenden Handlungssubjekte und nur in dem Moment eben dieser Perzeption. Ist dieser Moment vergangen, verschwinden zwar die Wörter nicht, aber sie verschwinden als ‚Wörter‘ und fallen wieder zurück in den Status ‚amorphe Kleckse‘. Das heißt: In dem Moment, wo die amorphen Kleckse durch unser Handeln zum Leben erweckt werden, sie sich so ihrer „mumienartige(n) Aufbewahrung“ (Humboldt 1979: 418) entledigen und für uns im „Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (ebd.: 418) zu Wörtern und in toto damit zu Texten werden, erreichen sie ihren spezifischen ontologischen Status als transitorische Ereignisse.

 

 

II.

Was bedeutet dies nun für die Ontologie der Sprache, der Wörter und damit aller im weitesten Sinne sprachlich verfassten Werke? Im Folgenden lassen wir uns auf ein heuristisches Wagnis ein. Und versuchen uns – ohne Netz und doppelten Boden – an einer systematischen Differenzierung der radikalen Konsequenzen, die, so unsere These, Humboldts wegweisenden sprachpragmatischen Überlegungen inhärent sind:

 

a.     Sprache als Oberbegriff: Abstraktum

Die Sprache‘ ist ein nicht zählbares Substantiv, von ihm kann kein Plural ohne eine qualitative Bedeutungsänderung gebildet werden (weshalb es kein Kollektivsingular[5] ist). Spreche ich von ‚der Sprache‘, spreche ich „von der Sprache überhaupt“ (Humboldt 1980: 36), nicht von einer natürlichen Sprache.

 

b.    Sprache als Bezeichnung einer Einzelsprache: Abstraktum

Spreche ich hingegen von ‚den Sprachen‘, so spreche ich von den verschiedenen Einzelsprachen „verschiedner Völkerschaften“ (ebd.: 36). Jedoch erscheint auch diese und jene Einzelsprache nicht als vorfindliches Konkretum. Auch eine Einzelsprache ist allein „als ein durch die Wissenschaft gebildetes Abstractum“ (Humboldt 1979: 420) gegeben. Das heißt: eine zur arbeitstechnischen Erleichterung erstellte Abstraktion des tatsächlich Vorfindlichen, bei dem das, was eins ist, zudem willkürlich getrennt wird, ist doch „[d]as Zerschlagen (: der Sprache, Anm. SO) in Wörter und Regeln nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung“ (ebd.: 419).

 

c.     Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst:

transitorisches Konkretum

„Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit.“ (Humboldt 1979: 439). Von ihm wird sie stets „im Denken aufs neue erzeugt […], lebendig in Rede oder Verständnis“ (ebd.: 438). So zeigt sich die wahre ontologische Bestimmung der Sprache: als „etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes“ (ebd.: 418). Wird also eine Sprache S zu einem bestimmten Zeitpunkt Z von einer Person P irgendwo auf der Welt gebraucht – also gelesen, gedacht, gehört, gesprochen –, so existiert diese Sprache S in diesem Moment in der ihr spezifischen Seinsweise. Unabhängig von unserem jeweiligen individuellen Gebrauch hat sie jedoch kein Sein. Aber dadurch, dass ihre Existenz in unserem Gebrauch, durch unseren Gebrauch und während unseres Gebrauchs gewährleistet ist, handelt es sich nicht um ein Abstraktum, sondern um ein Konkretum. Da aber dieses ‚Sein allein im Gebrauch‘ keine physisch-persistierende, sondern vielmehr eine physikalisch-transitorische Existenz definiert, handelt es sich um ein ‚transitorisches Konkretum‘. Unsere abendländische Sprachweise und Denkstruktur neigt dazu, alles in Kategorien der „Handgreiflichkeit ihrer Objekte“ (Boehm 1983: 329), der physisch-persistierenden Präsenz erfassen zu wollen. Nicht umsonst sprechen wir von einem ‚Begriff‘ oder einer ‚Vorstellung‘; was wir nicht ‚verstehen‘, ist für uns ‚unfassbar‘. Diese handgreiflichen Kategorien sind aber kategorial falsch, wenn es um solche Konkreta geht, die keine physische-persistierende Präsenz, sondern physikalisch-transitorische Präsenz besitzen. Also um solche, wie wir sie in Literatur, Musik, Tanz, Theater, Oper, Ballett oder auch Performance vorfinden.

 

d.    Wörter einer Sprache:

Kaum ausgesprochen, müssen wir auch schon das Gesagte präzisieren. Denn streng genommen ist selbst die ‚Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst‘ kein transitorisches Konkretum, da ja auch sie eine Abstraktion gegebener Verhältnisse darstellt und damit eher das zu sein scheint, was Amie L. Thomasson „abstract artifact“ (vgl. Thomasson 2008, 247; vgl. hier d.6) nennt. Wir sollten deshalb noch einen Schritt weitergehen, um den ontologischen Status dessen zu bestimmen, was so undifferenziert ‚Wörter‘ genannt wird:

 

d.1  Wörter in ihrem wirklichen Wesen:

transitorische Konkreta -> transitorische Ereignisse

Wörter sind allein dann ‚Wörter‘, wenn es ein sie gebrauchendes Individuum ‚im Denken aufs neue erzeugt, lebendig in Rede oder Verständnis‘. Diese ‚Wörter‘ sind es, die sich auf der Ebene physikalischer, nicht jedoch physischer Präsenz als ‚in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens‘ Gegebenes und ‚beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes‘ erweisen und damit im ontologischen Status ‚transitorische Konkreta‘ gegeben sind: als transitorische Ereignisse.

 

i.      Die geschriebenen, gedruckten oder elektronisch aufgezeichneten persistierenden Substitute der transitorischen Ereignisse ‚Wörter‘ sind nur ‚mumienhaft‘ aufbewahrte ‚todte Theile‘. In diesem Status sind die Wörter nicht in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst: Sie müssen, um zu sein, erst durch uns aktualisiert und kontextualisiert, also gedacht, gelesen, gehört oder gesprochen werden; sie sind in diesem Moment zwar nicht physisch, aber sehr wohl physikalisch[6], z.B. als Laute, präsent. Mithilfe funktioneller Bildgebungsverfahren wie PET (Positronen-Emissions-Tomographie), MRT (Magnetresonanztomographie) oder EEG (Hirnstrommessung) hat die empirische Ästhetik zudem zeigen können, dass beim Memorieren, Lesen, Hören oder Sprechen die für Sprache zuständigen Hirnareale aktiv sind. Bisweilen werden sogar weitere Areale wie die der motorischen Systeme aktiviert, da reicht bereits das Hören des Begriffs ‚Hammer‘ aus.

ii.    Wörter sind also in ihrem Sein sowohl an das Dasein der Menschen als auch an den Vollzug durch sie gebunden: Sie existieren nur im Gebrauch, durch den Gebrauch und während des Gebrauchs durch uns. Sollte also die Menschheit ad hoc nicht mehr gegeben sein, gäbe es infolgedessen auch die Wörter in ihrem wirklichen Wesen nicht mehr.

iii.   Lange vor Etablierung der Schrift gab es Wörter bereits als gesprochene Wörter, also als transitorische Ereignisse. Die Kategorie der Wörter als transitorische Konkreta ist demnach der Kategorie der persistierenden Substitute der Wörter aka Schrift vorgängig. Genauer gesagt: der Kategorie der non-kontextualisierten amorphen Kleckse (siehe d.3). Denn diese Kleckse gehen erst im Moment ihrer Aktualisierung und Kontextualisierung durch sprach- und damit regelkompetente Rezipient*innen in den Status ‚Wörter‘ über.

 

d.2  Wörter kontextualisiert in ihrem unwirklichen Wesen:

persistierende Konkreta (aka geschriebene Wörter)

Als geschriebene Wörter befinden sich Wörter auf der Ebene physikalischer Präsenz. Sie sind, ob als elektronische Spuren, Pigmente, Metalloxide oder Kunstharze, als physisch-persistierende Entitäten gegeben. Das heißt: als persistierende Substitute der Wörter, deren wirklicher Seinsstatus der transitorischer Konkreta (d.1) ist. Genauer gesagt: Haben wir die geschriebenen, gedruckten oder elektronisch aufgezeichneten Substitute der transitorischen Konkreta -> transitorischen Ereignisse ‚Wörter‘ (d.1) als persistierende Entitäten ‚Wörter‘ (d.2) erfasst, so dokumentiert dieser Umstand die sich im Zuge ihrer Aktualisierung und Kontextualisierung durch unseren Gebrauch automatisch ergebene Transformation der vorliegenden persistierenden Entitäten ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5) in den Status persistierender Entitäten ‚Wörter‘ (d.2). Dabei finden die Wörter im Vollzug der Aktualisierung und Kontextualisierung durch unseren Gebrauch in diesem Gebrauch ihr eigentliches Dasein als transitorische Ereignisse (d.1).

 

Die Identifizierung amorpher Kleckse als geschriebene Wörter erfolgt auf Basis unseres Weltwissens, unserer dispositionellen Grundverfassung sowie unserer strukturell kooperativ erfolgten Sozialisation. Sie ist kontextuell stets eingebettet in den jeweiligen soziokulturellen, lebensweltlichen und intersubjektiv konstituierten Zusammenhang in der Synchronie. Diese so bedingte Rezeption ist für uns die ganz selbstverständlich gegebene, weil einzig mögliche Form der Rezeption. Das heißt: ‚Wörter‘ sind uns stets in der kontextualisierten Form dessen gegeben, was sich non-kontextualisiert als ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5) darstellt. Die Transformation amorpher Kleckse benennt eben den Vorgang, den wir in d.1 beschrieben haben: Die amorphen Kleckse werden als Wörter ‚lebendig in Rede oder Verständnis‘ eines sie rezipierenden Subjekts. Um also den Zustand d.2 zu erreichen, um die amorphen Kleckse als geschriebene Wörter, die ja im Status ‚persistierende Konkreta‘ gegeben sind, überhaupt erst erfassen zu können, müssen wir sie stets – denkend, schreibend, lesend, hörend – als ‚transitorische Konkreta‘ hervorbringen. Dadurch erweisen sie sich als ‚beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes‘ und finden dabei ihr eigentliches Dasein als transitorische Ereignisse.

 

Als persistierende Entitäten sind diese geschriebenen, gedruckten oder elektronisch aufgezeichneten ‚Wörter‘ nach menschlichem Ermessen selbst dann noch gegeben, wenn wir als Menschheit ad hoc nicht mehr gegeben sein sollten. Sie besitzen also ein Sein unabhängig vom Dasein der Menschen – jedoch nicht im Status ‚geschriebene Wörter‘ (d.2; kontextualisiert), sondern nur im Status ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5; non-kontextualisiert). Denn es gilt ja: Wörter sind nur im Gebrauch, durch den Gebrauch und während des Gebrauchs durch uns als Wörter in ihrer eigentlichen Seinsweise gegeben; geschriebene Wörter hingegen sind nur ‚mumienhaft‘ aufbewahrte Wörter, die einer erneuten Aktualisierung und Kontextualisierung bedürfen, um zu sein.

 

Im Moment ihrer Aktualisierung und Kontextualisierung durch sprach- und damit regelkompetente Rezipient*innen gehen die zuvor im Status ‚persistierende Konkreta‘ befindlichen amorphen Kleckse (d.3d.5) in den Status ‚transitorische Konkreta‘ über und werden zu dem, was sie für uns sind: zu ‚Wörtern in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst‘ (d.1). Was hier etwas verklausuliert angedeutet wird, bedeutet in der Konsequenz nichts anderes, als:

 

Der Status  [Wörter kontextualisiert in ihrem unwirklichen Wesen: persistierende Konkreta aka geschriebene Wörter : d.2] ist nur eine zum besseren Verständnis der realen Verhältnisse erfolgte Abstraktion, die die hypothetische Zwischenphase der Transformation der  [amorphen Kleckse : d.3d.5]  in  [Wörter in ihrem wirklichen Wesen: transitorische Konkreta : d.1] bezeichnet. Pointiert formuliert heißt dies: Es gibt keine geschriebenen Wörter. Zumindest nicht so, wie sie konsensuell verstanden werden.

 

d.3  Wörter non-kontextualisiert in ihrem unwirklichen Wesen:

persistierende Konkreta (aka amorphe Kleckse -> geschriebene Wörter)

Die geschriebenen, gedruckten oder elektronisch aufgezeichneten persistierenden Substitute der Wörter als transitorische Ereignisse (d.1) verharren solange im Status ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5), bis sie durch uns aktualisiert und kontextualisiert, also gedacht, gelesen, gehört oder gesprochen werden und sie im Moment unseres Gebrauchs automatisch in den Status ‚geschriebene, gedruckte oder elektronisch aufgezeichnete persistierende Konkreta‘ transformiert sind (d.2).

 

Voraussetzung dafür, dass die Transformation des Status ‚non-kontextualisierte persistierende Konkreta -> amorphe Kleckse‘ (d.3d.5) via Gebrauch durch uns (in diesem Gebrauch liegen die Wörter im Status transitorische Ereignisse ‚Wörter in ihrem wirklichen Wesen‘ vor : d.1) hin zum Status ‚kontextualisierte persistierende Konkreta -> geschriebene Wörter‘ (d.2) recht problemlos erfolgen kann, ist, dass wir über ein entsprechendes Weltwissen verfügen, die erforderliche dispositionelle Grundverfassung besitzen und auch dergestalt sozialisiert sind, dass wir die amorphen Kleckse nicht nur als bedeutungstragende Zeichen (hier: als Wörter) identifizieren können, sondern sie auch noch ‚im Schlaf‘ (G. Ryle) verstehen können.

 

Solange keine Perzeption ergo Aktualisierung und Kontextualisierung dieser persistierenden Entitäten und damit keine Transformation in transitorische Ereignisse durch uns erfolgt, sind die Wörter in ihrem unwirklichen Wesen so gegeben, wie sie auch gegeben sind, wäre die Menschheit als Ganzes nicht mehr: im Status ‚amorphe Kleckse‘ in non-kontextualisierter Form als ‚ens. Dieser non-kontextualisierte Zustand ist jedoch einer, der für uns ein rein hypothetischer Zustand ist, liegt er doch außerhalb jeder Erfahrbarkeit, da jedwede Rezeption für uns notwendigerweise das Rezipierte in den jeweiligen soziokulturellen, lebensweltlichen und intersubjektiv konstituierten Zusammenhang in der Synchronie einbettet und in dieser Weise kontextualisiert. Damit ist diese so bedingte Rezeption für uns die ganz selbstverständlich gegebene, weil einzig mögliche.

 

Als persistierende Entitäten sind nach menschlichem Ermessen diese geschriebenen, gedruckten oder elektronisch aufgezeichneten ‚Wörter‘ aka amorphe Kleckse in non-kontextualisierter Form als ‚ens‘ selbst dann noch gegeben, wenn wir als Menschheit ad hoc nicht mehr gegeben sein sollten: Sie besitzen also ein Sein unabhängig vom Dasein der Menschen.

 

d.4  Wörter non-kontextualisiert in ihrem unwirklichen Wesen:

persistierende Konkreta (aka amorphe Kleckse -> amorphe Kleckse)

Ist die Statustransformation von  d.3d.5 ([non-kontextualisierte] amorphe Kleckse: persistierende Konkreta)  via  d.1 (Aktualisierung: transitorische Konkreta)  hin zu  d.2 ([kontextualisierte] geschriebene Wörter: persistierende Konkreta) nicht erfolgreich, so kann dies zwei Gründe haben:

 

i.               Voraussetzungen für angemessene Identifizierung fehlen:

Wir verfügen nicht über das entsprechende Weltwissen, haben ggf. nicht die erforderliche dispositionelle Grundverfassung und sind ggf. auch nicht dergestalt sozialisiert, dass wir die amorphen Kleckse als bedeutungstragende Zeichen (in diesem Fall: als Wörter) identifizieren können.

ii.             Voraussetzungen für angemessene Interpretation fehlen:

Wir sind ggf. imstande, die amorphen Kleckse als bedeutungstragende Zeichen (in diesem Fall: als Wörter) zu identifizieren, verfügen aber nicht über das entsprechende Weltwissen, haben ggf. nicht die erforderliche dispositionelle Grundverfassung und sind ggf. auch nicht dergestalt sozialisiert, dass wir die Zeichen mittels regelbasierter Schlüsse[7] auch interpretieren können.

 

Jedes persistierende Konkretum aka amorpher Klecks, das ein geschriebenes Wort darstellt, ist in seiner jeweiligen Aktualisierung in der jeweiligen Synchronie in einen spezifischen soziokulturellen, lebensweltlichen und intersubjektiv konstituierten Kontext eingebettet, der seinerseits episodales Resultat einer diachronen Entwicklung ist. Wurden die Rezipierenden in eben diesem Kontext sozialisiert und verfügen sie über eine angemessene dispositionelle Grundverfassung sowie ein entsprechendes Weltwissen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Identifikation des amorphen Klecks als ‚Zeichen‘ erfolgreich sein wird. Groß ist darüber hinaus auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Interpretation dieses Zeichens mittels regelbasierter Schlüsse erfolgreich sein wird.

 

Wurden die Rezipierenden jedoch nicht in eben dem Kontext sozialisiert, in dem das persistierende Konkretum aka amorpher Klecks, das ein geschriebenes Wort darstellt, eingebettet ist, so besteht eine Chance auf eine erfolgreiche Identifikation des amorphen Klecks als ‚Zeichen‘ sowie auf eine erfolgreiche Interpretation dieses Zeichens mittels regelbasierter Schlüsse für diese Rezipierenden nur dann, wenn sie nicht nur über eine angemessene dispositionelle Grundverfassung verfügen (dies ist per se die conditio sine qua non), sondern auch über ein entsprechend erworbenes Weltwissen.

 

d.5  Wörter non-kontextualisiert in ihrem unwirklichen Wesen:

persistierende Konkreta (aka amorphe Kleckse -> ens)

Solange keine Perzeption der persistierenden Entitäten ‚amorphe Kleckse‘ durch uns erfolgt oder, sollte es die Menschheit nicht mehr geben, erfolgen kann, verbleiben diese Wörter in ihrem unwirklichen Wesen im non-kontextualisierten Aggregatzustand ‚ens. Dieser non-kontextualisierte Zustand ist jedoch einer, der für uns ein rein hypothetischer Zustand ist, liegt er doch außerhalb jeder Erfahrbarkeit, da jedwede Perzeption für uns notwendigerweise das Perzipierte in den jeweiligen soziokulturellen, lebensweltlichen und intersubjektiv konstituierten Zusammenhang in der Synchronie stellt, also kontextuell einbettet.[8]

 

d.6  Wörter als Typen: Abstrakta

Der Versuch, die Ontologie der Wörter zu bestimmen, ist Ausweis einer Leistung, zu der – nach jetzigem Stand der Wissenschaft – einzig der Mensch fähig ist: Wir lösen uns von den real existierenden Dingen und denken über sie nach. Dieses ‚Sich-von-den-Dingen-lösen‘ und ‚Über-etwas-nachdenken‘ erweist sich damit als Abstraktion gegebener Verhältnisse. Heruntergebrochen auf unser Vorhaben bedeutet dies: Um die Ontologie der Wörter so bestimmen zu können, wie wir es in d.1d.5 getan haben, kommen wir nicht umhin, über die Wörter zu sprechen und sie damit in diesem Moment als Abstrakta zu konstituieren. Damit stoßen wir auf die grundsätzliche Differenzierung, die Charles S. Peirce vorgenommen hat: die Differenzierung zwischen Type und Token. Dem Abstraktum ‚Type‘ stehen als Konkreta ‚Tokens‘, also Vorkommnisse gegenüber. Das, womit wir sprechen (d.1), sind die real existierenden Vorkommnisse, die Tokens als transitorische Ereignisse. Damit wir imstande sind, auch über sie und über Tokens als persistierende Entitäten (d.2) sprechen zu können, müssen wir von ihnen abstrahieren. Resultat dieser Abstraktion ist das, was wir ‚Type‘ nennen.[9] An diesem Punkt erkennen wir eine gewisse Nähe zu dem, was Amie L. Thomasson als „abstract artifact“ (Thomasson 2008: 247) bezeichnet hat. Nur meint Thomasson damit die spezifische Ontologie der Wörter benannt zu haben, wohingegen sie nach unserer Auffassung lediglich einen von bislang sechs ermittelten Status der Wörter bezeichnet, die sich ihrerseits zwei resp. drei verschiedenen ontologischen Bestimmungen zuordnen lassen:

 

1.     den transitorischen Konkreta (d.1)

2.     den persistierenden Konkreta (d.2d.5)

3.     den Abstrakta (d.6)

 

Nun weist Peirce aber darauf hin, dass ein Type „does not exist“ (Peirce 1906, 505f.). So ist der Type ‚the‘ lediglich ein hypothetisches Konstrukt, eine Abstraktion der Tokens the. Einem Abstraktum stehen also unzählige transitorische und persistierende Konkreta gegenüber. Das heißt: einem nicht real existierenden Type unzählige real existierende Tokens. Dieser Typus eines Type ist demnach den Tokens logisch nachgängig[10], wird also nachträglich als ‚Type‘ konstituiert und bisweilen als schriftsprachliches Substitut manifestiert (d.2), das Eingang in ein Wörterbuch findet. Ist aber das Abstraktum, der Type eines Wortes, erst einmal festgelegt, scheinen sich die tatsächlichen Verhältnisse umzukehren: Es werden die Konkreta, die Tokens dieses Wortes, als „an Instance of the Type“ (ebd.: 506) beschrieben. Damit erscheint der Type den Tokens gegenüber als vorgängige Instanz und nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, die Tokens dem Type. Dies wiederum macht die paradoxe Aussage von Peirce erklärlich, dass ein Type zwar „does not exist“, aber dass er „determines things that do exist“ (ebd.: 506), dass ein Type also die Tokens determiniert:

 

è Der Typus von ‚Type‘, von dem hier die Rede ist, resultiert aus den Tokens. Liegt jedoch der Type einmal vor, erscheint ein Token wie die Realisierung eben dieses Types.

 

 

III.

Wie sind nun aber Wörter gegeben, wenn sie weder als persistierende Entitäten – sei es kontextualisiert als Notationen, sei es non-kontextualisiert als amorphe Kleckse – vorliegen noch die Wörter ihr eigentliches Sein als transitorische Ereignisse im Vollzug durch uns finden? Zumindest diejenigen unter uns, die im abendländischen Kulturraum sozialisiert wurden, neigen dazu, stets nach etwas zu suchen, was eine persistierende Existenz suggeriert. Wir suchen nach etwas Bleibendem, Dauerhaftem, nachgerade Physischem, an dem wir uns festhalten können. Das wir uns im Wortsinne vorstellen, wir begreifen und auf das wir mit deiktischer Geste verweisen können. Drum konzipieren wir solch mysteriöse Entitäten wie ‚abstrakte Artefakte‘ oder ‚mentale Gegenstände‘ (nach unserem Dafürhalten handelt es sich dabei jeweils um eine nachgerade klassische contradictio in adiecto) und ignorieren geflissentlich den Kategorienfehler, den wir dabei begehen: Wir begegnen den transitorische Ereignissen ‚Wörter‘ mit dem Begriffsinventarium kategorial differenter persistierender Entitäten. Ein Bemühen, das zum Scheitern verurteilt ist. Was ein lässliches Vergehen ist. Nur muss das Scheitern eingesehen und der Grund des Scheiterns erkannt werden. Geschieht dies nicht, bleibt alles beim Alten. Die Suche nach der Ontologie der Wörter gleicht dann weiterhin einem Stochern im Nebel: Wir hadern mit der Vorstellung, dass Wörter als transitorische Ereignisse ephemere Wesen sind. Dass sie keinen Bestand, sondern nur einen Verlauf haben. Kaum hervorgebracht, schon wieder vergangen. Ohne eigenes, von uns unabhängiges physisches Sein. Wir hadern schon deshalb mit dieser Vorstellung, weil sie eine Konsequenz hat, die für uns kaum erträglich ist: Wörter existieren als Wörter nur im Gebrauch, durch den Gebrauch und während des Gebrauchs durch uns. Sonst nicht.

 

e.     Text

Rein formal betrachtet handelt es sich bei einem Text, so wie er konsensuell verstanden wird, um nichts weiter als um eine Notation. Ein Konvolut von Wörtern, definiert durch einen Anfang und ein Ende.[11] Angesichts der zuvor beschriebenen wechselvollen ontologischen Aspekte dessen, was wir konsensuell ‚Wörter‘ nennen, sollten wir uns jedoch diese Betrachtungsweise etwas genauer anschauen, richtet sich doch die Ontologie eines Textes nach der Ontologie der Wörter:

 

e.1  Text als schriftsprachliche Gegebenheit (TG)

Bei Texten als schriftsprachliche Gegebenheiten (TG) handelt es sich um Notationen. Da sich ihre Ontologie nach der Ontologie ihrer Elemente, der Wörter, richtet, gilt für sie die in d.2d.5 hinsichtlich der Ontologie geschriebener Wörter gemachte Differenzierung analog. Als schriftsprachliche Gegebenheiten (TG) besitzen Texte stets den Seinsstatus persistierender Entitäten und liegen uns in der Regel im Rahmen physischer Substitute vor, d.h. als Manuskripte, Bücher und E-Books, aber auch in den Arbeiten bildender Künstler*innen wie Barbara Kruger, Jenny Holzer, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner oder Markus Vater. TG sind, ob als elektronische Spuren, Pigmente, Metalloxide oder Kunstharze, ontologisch als persistierende Entitäten definiert. Als Notationen sind sie Substitute eben der Texte, die als sprachliche Ereignisse (TE; siehe e.2) einer ontologisch gänzlich anders gearteten Kategorie zugehören.

 

e.2  Text als sprachliches Ereignis (TE)

Wie in d.1 beschrieben sind Wörter allein dann ‚Wörter in ihrem wirklichen Wesen‘, wenn sie ein Individuum stets ‚im Denken aufs neue erzeugt, lebendig in Rede oder Verständnis‘. Sie erweisen sich als ‚in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens‘ Gegebenes und ‚beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes‘. Damit kommt ihnen der ontologische Status ‚transitorische Konkreta‘ zu, sie liegen allein als transitorische Ereignisse vor. Da die Seinsweise der Texte nun an die Seinsweise der Wörter gebunden ist, entspricht der ontologische Status der Texte als sprachliches Ereignis (TE) dem der Wörter in ihrem wirklichen Wesen (d.1). Das heißt, sie sind als transitorische Konkreta gegeben, sind als Ereignisse des Lesens, Sprechens, Schreibens, Memorierens in ihrem Sein an das Dasein der Rezipient*innen und an deren Vollzug, sprich: an deren Aktualisierung und Kontextualisierung gebunden und existieren nur im Gebrauch, durch den Gebrauch und während des Gebrauchs durch sie.   

 

Aus dem Gesagten ergibt sich nun eine Konsequenz, die unserer tradierten Sichtweise gänzlich widerspricht: Wenn „die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (Humboldt 1979, 418) liegt, liegt folglich auch das eigentliche Wesen der Wörter und Texte ‚in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens‘. Da Notationen hingegen nur eine „mumienartige Aufbewahrung“ (Humboldt 1979, 418) der Wörter, Texte und damit der Sprache darstellen, liegt also das eigentliche Wesen sprachlich verfasster Werke ebenfalls ‚in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens‘. Derartige Werke sind demnach transitorische Ereignisse. Literarische Werke sind, wie auch viele Arbeiten bildender Künstler*innen wie Barbara Kruger, Jenny Holzer, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner oder Markus Vater, unzweifelhaft sprachlich verfasste Werke. Ergo stellen literarische Werke per se transitorische Werke dar. In ihnen sind Texte als sprachliche Ereignisse (TE), nicht als schriftsprachliche Gegebenheiten (TG) gegeben. Es gilt demnach:

 

i.      TG ≠ literarisches Werk -> TG ist lediglich Notation eines literarischen Werks[12].

ii.    TE = literarisches Werk -> TE ist ‚ins Leben gerufener‘ Fundus amorpher Kleckse. Erst im Moment seiner kompetenten Bezugnahme durch uns sind die Kleckse Zeichen. In diesem Fall: Notationen, schriftliche Zeichen. Sie werden hernach durch unseren Vollzug für die Dauer des Vollzugs ‚ins Leben gerufen‘, erhalten so ein an unseren Vollzug gebundenes Dasein.

 

Wie immer man also sprachlich verfasste Werke, damit also auch Literatur, in den diversen kunsttheoretischen Konzepten kategorisieren mag – ontologisch sind sie nicht als physische Entitäten, sondern als transitorische Ereignisse aufzufassen. Sie sind keine persistierende, sondern transitorische Konkreta. Erst indem wir lesen, sprechen, rezitieren, vortragen, aufführen, schreiben, lautlos memorieren wird die Sprache – und auch nur währenddessen – zum Leben erweckt: Durch uns tritt sie ins Sein. Und mit ihr der literarische Text.

 

Notationen literarischer Werke bedingen ein physisches Medium, in dem sie niedergeschrieben sind, z.B. ein Buch. Klappt jedoch niemand das Buch auf, liest auch niemand den Text. Klappt nun doch jemand diese physische Entität, das Buch, auf, so erscheinen uns die amorphen Kleckse im Akt, durch den Akt und während des Akts des Lesens auf Basis unseres Weltwissens, unserer dispositionellen Grundverfassung und unserer strukturell kooperativ erfolgten Sozialisation für die Dauer unseres Gebrauchs und unserer Kontextualisierung als sinnhafte Zeichen, als Wörter, die uns in toto als Text begegnen. Amorphe Kleckse wie auch Wörter resp. Texte erweisen sich damit als drei Status ein- und desselben Phänomens:

 

i.               als geschriebene Wörter -> persistierende Entitäten (d.2)

ii.             als perzipierte und rezipierte Wörter -> transitorische Ereignisse (d.1)

iii.            als amorphe Kleckse -> persistierende Entitäten (d.3d.5)

 

Klappen wir das Buch zu, fallen die geschriebenen Wörter (d.2), die wir für die Dauer unseres Vollzugs ‚zum Leben erweckt haben‘ (d.1), wieder in den Status ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5) zurück. Solange keine Perzeption ergo Aktualisierung und Kontextualisierung dieser persistierenden Entitäten und damit keine Transformation in transitorische Ereignisse durch uns erfolgt, sind die non-kontextualisierten Wörter in ihrem unwirklichen Wesen aka amorphe Kleckse so gegeben, wie sie auch gegeben sind, wäre ad hoc die Menschheit als Ganzes nicht mehr[13] – in dem vierten Status ein- und desselben Phänomens als pures Seiendes, das auch ohne uns existiert:

 

iv.            als ens -> persistierende Entität (d.6)

 

f.      Werk

Die Bestimmung der Ontologie der Wörter zeitigt erhebliche Konsequenzen für die Bestimmung der Ontologie sprachlich verfasster Werke (vgl. zur konsequenten Differenzierung der Status dessen, was konsensuell pauschal ‚Werk‘ genannt wird, in aller Ausführlichkeit Oehm 2023b passim, insbesondere 219–232). Das beginnt bereits bei dem Begriff ‚Werk‘. Denn während wir es in der bildenden Kunst oftmals mit Resultaten künstlerischen Schaffens zu tun haben, die persistierende Entitäten darstellen, haben wir es bei allen im weitesten Sinne performativen Künsten, also auch in der Literatur oder der Musik, mit Resultaten künstlerischen Schaffens zu tun, die kategorial different sind: Bei ihnen handelt es sich um transitorische Ereignisse. Können die Resultate künstlerischen Schaffens in der bildenden Kunst aufgrund der „Handgreiflichkeit ihrer Objekte“ (Boehm 1983: 329) problemlos mit dem konsensuellen Begriff ‚Werk‘ identifiziert werden, ist dies bei ihren Pendants in der Literatur und in allen im weitesten Sinne performativen Künsten nicht so ohne Weiteres der Fall. In spekulativen Diskursen wird ohne rechte Aussicht auf eine erschöpfende Antwort gefragt, was eigentlich das Werk ist, was wann Werk, was schon Werk, was noch nicht Werk ist oder was nie Werk sein kann.[14] Diese Diskurse führen zu solch skurrilen Thesen wie die, die uns die typentheoretische Kunstontologie präsentiert. Sie umgeht die Antwort auf die heikle Frage, wie sich denn unzählige ephemere Vorkommnisse als ‚das eine Werk‘ begreifen lassen können, indem sie die real existierenden Tokens zu Instantiierungen des einen wahren Werks erklären: des Type. Nur dank Peirce wissen wir ja: Ein Type „does not exist“ (Peirce 1906: 505f.).

 

Hintergrund ist auch hier, so meine Einschätzung, unser steter abendländischer Drang, Resultate künstlerischen Schaffens als etwas Konkretes, Einzigartiges, geradezu Greifbares erfassen zu wollen. Dass sich statische Werkmodelle in der Theorie der bildenden Kunst finden, „wo das Werk oftmals enger an seine materielle Erscheinung geknüpft wurde als in der Literatur“ (Kater 2019: 68), ist also recht naheliegend. Nur versuchen wir mit dem Begriffsinventarium eben dieser statischen Werkmodelle auch die Resultate künstlerischen Schaffens zu erfassen, die sich, wie die der im weitesten Sinne performativen Künste (also auch die der Literatur und der Musik), im ontologisch kategorial differenten Zustand transitorischer Ereignisse präsentieren. Ein Bemühen, das wie gesagt scheitern muss: Wollen wir die kategorial differenten Resultate künstlerischen Schaffens – hier die persistierenden Entitäten, dort die transitorischen Ereignisse – gleichermaßen als ‚Werke‘ begreifen, so müssen wir uns von dem Konzept verabschieden, im Werk eine ontologische Kategorie sehen zu wollen. Wir sollten den Begriff ‚Werk‘ vielmehr als einen neutralen umbrella term auffassen, der, ungeachtet des jeweiligen Seinsstatus, alle im lebensweltlichen, intersubjektiven Kontext entstandenen Resultate künstlerischer Prozesse gleich welchen Mediums, gleich welcher künstlerischen Gattung, gleich welcher Qualität, gleich welcher kulturellen Herkunft, gleich welcher Epoche umfasst:

 

A.   Metaebene: Werk

Der Begriff ‚Werk‘ ist als Oberbegriff aller Resultate künstlerischer Prozesse ein Abstraktum. Er referiert, entgegen seines alltagssprachlich konsensuellen Gebrauchs, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar auf ein konkretes Resultat künstlerischen Schaffens. Unmittelbar referiert er auf die ontologische Ebene der beiden kategorial differenten Kategorien der Resultate künstlerischen Schaffens [a. persistierende Konkreta] und [b. transitorische Konkreta].

 

B.    Ontologische Ebene: Resultate künstlerischen Schaffens

a.     persistierende Konkreta

Sie umfassen auf der Ebene physikalischer Präsenz alle Resultate künstlerischen Schaffens, die als persistierende Entitäten gegeben sind. Einmal von uns geschaffen, haben sie ein Sein unabhängig von uns und verbleiben in der Zeit, auch wenn wir als Menschheit ad hoc verschwinden: Bestand.  

 

Ø  Physisch präsente ‚Werke‘ der bildenden Künste wie Skulpturen, Fotografien und Gemälde (aber auch: die Notationen sprachlich verfasster Werke)

 

b.     transitorische Konkreta  

Sie umfassen auf der Ebene physikalischer Präsenz alle Resultate künstlerischen Schaffens, die als transitorische Ereignisse gegeben sind. Sie sind an unseren Vollzug und damit in ihrem Sein an unser Dasein gebunden, vergehen also mit der Zeit: Verlauf.

 

Ø  Ephemer präsente ‚Werke‘ aller im weitesten Sinne performativen Künste wie die der Gattungen Tanz, Theater, Ballett, Performance oder Poetry-Slam, aber auch die ‚Werke‘ der Musik und Literatur sowie in Teilen die der bildenden Kunst. So etwa die ‚Text-Werke‘ von Barbara Kruger, Jenny Holzer, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner oder Markus Vater. Die Notationen dieser sprachlich verfassten Werke sind als solche amorphe Kleckse und damit persistierende Konkreta. Im Moment ihrer Perzeption, Aktualisierung und Kontextualisierung durch uns werden die amorphen Kleckse als geschriebene Wörter erfasst und in die Daseinsform transformiert, die ihrem wirklichen Wesen entspricht: in die transitorischer Ereignisse.

 

g.     Manuskript, Partitur, Buch, E-Book u.ä.

Obgleich es sich bei literarischen und musikalischen Resultaten künstlerischen Schaffens generell um transitorische Ereignisse handelt, sind wir bei ihnen oftmals auch mit persistierenden Konkreta konfrontiert. Und dies gleich auf zweierlei Weise:

 

1.     Notationen: persistierende Konkreta

Liegen Notationen vor – also geschriebene Wörter oder Musiknoten im non-kontextualisierten Status amorpher Kleckse (d.3d.5) oder geschriebene Wörter oder Musiknoten im bereits kontextualisierten Status (d.2) –, so sind sie in der Regel als elektronische Spuren, Pigmente, Metalloxide oder Kunstharze, also als persistierende Entitäten gegeben. Sie sind damit die persistierenden Substitute der Wörter, deren wirklicher Seinsstatus der transitorischer Konkreta (d.1) ist. Perzipieren wir die persistierenden Entitäten ‚amorphe Kleckse‘ (d.3d.5), so kontextualisieren wir sie (d.2). Ist nun sowohl ihre Identifikation als auch ihre Interpretation erfolgreich, zeigt dies an, dass wir die amorphen Kleckse wahrgenommen, sie als geschriebene Wörter erfasst und ihre Bedeutung verstanden haben. Dies erfolgt im Rahmen unserer Aktualisierung der ‚Wörter‘, d.h.: ihres Gebrauchs durch uns. Durch den Gebrauch werden die Wörter für die Dauer des Gebrauchs in eben die Daseinsform transformiert, die ihrem wirklichen Wesen entspricht: in die transitorischer Ereignisse.

 

2.     Trägermedien der Notationen: persistierende Konkreta

Notationen benötigen stets ein spezifisches Trägermedium, in dessen Rahmen sie persistieren. Handelte es sich früher oftmals um Pergament, Papyrus oder Stein, so kommt heute zumeist Zellstoff oder synthetisches Material zum Einsatz, vermehrt aber auch nichts dergleichen wie das E-Book oder die LED-Leuchtbänder bei Jenny Holzers Truisms. Doch stellen all diese persistierenden Konkreta – also sowohl die Notationen als auch die Trägermedien der Notationen – nicht das dar, was gemeinhin unscharf als das ‚Werk‘ bezeichnet wird:

 

i.               Notationen sind lediglich die persistierenden Substitute der Resultate künstlerischen Schaffens aka ‚Werke‘, die allein als transitorische Ereignisse ein Dasein haben.

ii.             Die Trägermedien dieser Notationen bieten den Notationen (i.) den persistierenden Rahmen, in dem sie den Resultaten sprachkünstlerischen und musikalischen Schaffens aka ‚Werken‘ als persistierende Substitute dienen können.

 

Bücher, also gedruckte Exemplare literarischer Werke, können ihrerseits durchaus als ‚Kunstwerk‘ benannt werden. Nur handelt es sich bei diesem Kunstwerk nicht um das literarische Werk, sondern um das Druckwerk. Als solches erweist sich dieses Token dann als Exemplar eines Kunstwerks des Buchdrucks, nicht jedoch als ein Exemplar eines literarischen Kunstwerks.

 

Selbstverständlich kann das Druckwerk auch bei literarischen Werken mehr sein als nur Trägermedium oder eigenständiges Kunstwerk des Buchdrucks. So wird etwa für die Konkrete Poesie die Sprache zum bildkünstlerischen Utensil, wird die so gestaltete Buchseite zu einem Bild (vgl. Carl Andre, der als Poet der visual poetry begann). Auch rezipiere ich, je nachdem, ob ich einen wertvollen Ledereinband oder aber ein schlichtes Reclam-Heftchen in Händen halte, einen Text anders (vgl. Niefanger 2019). Und warum sollen drucktechnische und buchgestalterische Aspekte für Autor*innen nicht integraler Teil ihres literarischen Buchkonzepts sein? Persistierende Entität und transitorisches Ereignis wären dann zu einer ähnlich symbiotischen Einheit verschmolzen wie in den ‚Text-Werken’ von Barbara Kruger, Jenny Holzer, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner oder Markus Vater. Damit wäre das Trägermedium hier konstituierendes Element eines literarischen Werks wie es dort konstituierendes Element eines bildkünstlerischen Werks wäre. Angesichts der symbiotischen Einheit dieser kategorial differenten Ontologien in einem ‚Werk‘ scheint es fast so, als ob da die liebgewonnene Grenzziehung zwischen bildender Kunst und Literatur keinen rechten Sinn mehr ergäbe. Wir hätten vielleicht ein Paradoxon als neue Gattung zu definieren, das als Resultat künstlerischen Schaffens ein Ding der Unmöglichkeit möglich macht:

 

Es entsteht und vergeht im Moment der Aktualisierung durch uns und hat Bestand über das Ende der Menschheit hinaus.

 

 

 

Literatur:

 

Albert, Hans (1991/2010), Traktat über die kritische Vernunft, Tübingen, 5. Aufl..

Boehm, Gottfried (1983), „Das Werk als Prozeß“, in: Willi Oelmüller (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie 3: Das Kunstwerk, Paderborn.

Böhler, Arno/Herzog, Christian/Pechriggl, Alice (2013), „Vorwort“, in: Böhler, Arno/Herzog, Christian/Pechriggl, Alice (Hg.): Korporale Performanz – Zur bedeutungsgenerierenden Dimension des Leibes, Bielefeld.

Ferguson, Adam (1767/1904), An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh.

Humboldt, Wilhelm von (1980), „Einleitung zum Kawi-Werk. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in: Schriften zur Sprache, Stuttgart.

Humboldt, Wilhelm von (1979), „Schriften zur Sprachphilosophie“, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. III, Darmstadt 5. Aufl..

Humboldt, Wilhelm von (1903), Gesammelte Schriften [GS], Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, VII, Berlin.

Jäger, Ludwig (2022), Der gestische Ursprung der Sprache,  Basel.

Kater, Thomas (2019), „Im Werkfokus: Grundlinien und Elemente eines pragmatischen Werkbegriffs“, in: Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Das Werk – Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, erschienen in der Reihe: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Berlin.

Keller, Rudi (22018): Zeichentheorie, Tübingen.

Keller, Rudi (42014), Sprachwandel, Tübingen.

Mandeville, Bernard de (2012), Die Bienenfabel, Frankfurt a. M..

Niefanger, Dirk (2019), „Zum Werkbegriff in der gegenwärtigen Interpretationspraxis: Exemplarische Untersuchungen“, in: Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Das Werk – Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Berlin.

Oehm, Stefan (2023a), Prolegomena zu einer Revision des Werkbegriffs, https://mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_revision-des-werkbegriffs.pdf.

Oehm, Stefan (2023b), Warum uns die Worte fehlen, wenn wir sie nicht gebrauchen. Versuch einer ontologischen Revision des Werkbegriffs, Würzburg.

Oehm, Stefan (2021a), „Entwurf zu einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst‘“, in: Was gibt es in der Kunst zu ‚verstehen‘? Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff, Würzburg.

Oehm, Stefan (2021b), „Kunst – ein Konstrukt der Rückprojektion?“, in: Was gibt es in der Kunst zu ‚verstehen‘? Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff, Würzburg.

Oehm, Stefan (2021c), Kunst – ein Kollektivsingular?, in: https://mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst-kollektivsingular.pdf.

Oehm, Stefan (2019), Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? Vom Wirken der unsichtbaren Hand, Würzburg.

Peirce, Charles S. (1906), Prolegomena to an Apology for Pragmatism, in: The Monist, Oct., Vol. 16, Nr.4. 492–546.

Polaschegg, Andrea (2020), Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst, Göttingen.

Polaschegg, Andrea (2019), „Der Gegenstand im Kopf: Zur mentalistischen Erbschaft des Werkkonzepts auf dem Sparbuch literaturwissenschaftlicher Objektivität“, in: Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Das Werk – Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Berlin.

Ryle, Gilbert (1969), Der Begriff des Geistes, Stuttgart.

Schmücker, Reinold (2009), „Wie ist Kunst? Eine ontologische Glosse zur Permanenz des Ästhetischen“, in: Melanie Sachs/Sabine Sander (Hg.): Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden.

Smith, Adam (1978), Der Wohlstand der Nationen, München.

Thomasson, Amie L. (22008), „The Ontology of Art”, in: Peter Kivy (ed.): The Blackwell Guide to Aesthetics, Part 1, Chapter 4, Hoboken.

Tomasello, Michael (42017), Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M.

Wittgenstein, Ludwig (1977), Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M..

 



[1] Wittgenstein (1977), 201; PU §432

[2] Indem Humboldt sagt, Sprache sei Sprache nur „in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (ebd., 418) und „(d)as Zerschlagen in Wörter und Regeln (sei) nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung“ (ebd., 419), propagiert er ein Handlungsmodell der Sprache, das sich als ‚Eine-Welt-Modell‘ bezeichnen lässt. Demgegenüber steht, wie Böhler/Herzog/Pechriggl im Anschluss an Überlegungen Sybille Krämers konstatieren, die Sprechakttheorie, in der „von einem ‚Zwei-Welten-Modell‘ von Sprache ausgegangen“ (Böhler u.a. 2013, 10) wird: die Sprache als Regelsystem auf der einen Seite und die Sprache in actu auf der anderen Seite. Nun ist es aber ausgerechnet die Sprechakttheorie, namentlich John R. Searle, die die Sprache in actu, so argumentieren die Autoren mit Jacques Derrida, nicht systematisch untersucht und „die Zusammengehörigkeit dieser beiden Welten“ (ebd.: 10) kommentarlos voraussetzt. „Bleibt aber der Seinscharakter von Sprechakten unbefragt – dass sie nämlich in actu getätigt werden müssen, um überhaupt zu sein –, dann bleibt auch der prekäre Seinsstatus von Sprache verhüllt: Dass es die Sprache als Regelwerk nämlich nur gibt, wenn und solange sie in Sprechakten in der Tat ‚zitiert‘, d. h. von sie tätigenden Subjekten immer wieder leibhaftig vollzogen und materiell verkörpert wird“ (ebd.: 10f.).

[3] Wie Michael Tomasello argumentiert auch Ludwig Jäger in überzeugender Weise, dass unsere menschliche Sprache ihren Ursprung nicht in einem lautlichen, sondern in einem gestisch-visuellen System hat. So schreibt Jäger in seinem überaus erhellenden Essay Der gestische Ursprung der Sprache (2022) „Nach der ersten mit der Aufrichtung des Menschen verbundenen Befreiung der Hand hätten wir es hier mit einer zweiten Befreiung der Hand zu tun, die vor ca. 100.000 Jahren nicht unwesentlich für den ‚swift change to behavioral modernity and the subsequent occupation of the entire world‘ verantwortlich war“ (Jäger 2022, 45). Bemerkenswert ist zudem, so Jäger, dass das Broca-Areal als „Vorläufer des motorischen Sprachzentrums des Menschen bei Primaten nicht die Stimme, sondern die Handgestik kontrolliert“ (Jäger 2022: 39; Hervorhebung SO). Ein starkes Indiz für die These, dass die vokal-auditive Sprache entwicklungsgeschichtlich auf die gestisch-visuelle Kommunikation zurückgeht, dass der Ursprung der Sprache also nicht in der Vokalisation, sondern in der Gestik liegt (vgl. auch Tomasello 2017).

[4] ens‘ ist das Partizip Präsens von esse (dt. sein): seiend. Es soll damit ein pures ‚gegeben‘ bezeichnet werden. Kein Ding, kein Sein, kein Kontext.

[5] Vgl. meine ausführlichen Ausführungen dazu u.a. in Oehm 2021c passim.

[6] Die Differenzierung ‚physisch‘ und ‚physikalisch‘ lässt sich im Englischen sprachlich nicht so ohne Weiteres nachvollziehen, da beide Begriffe wortgleich mit ‚physical‘ übersetzt werden.

[7] In der Semiotik werden „Zeichen, die mittels regelbasierter Schlüsse interpretiert werden, Symbole“ (Keller 2018: 156), „Zeichen, die mittels assoziativer Schlüsse interpretiert werden, Ikone“ (ebd.: 156) und „Zeichen, die mittels kausaler Schlüsse interpretiert werden, Symptome“ (ebd.: 156) genannt.

[8] Vgl. dazu die ausführliche Darstellung der verschiedenen Aggregatzustände dessen, was wir so gerne ganz undifferenziert ‚Werk’ nennen, in Oehm 2023a: 4–7, auch Oehm 2023b: 221–224.

[9] Hier zeigt sich unsere grundsätzliche Beschränktheit, der wir niemals entkommen können: Um überhaupt ein Abstraktum aufweisen und anderen diese Einsicht vermitteln zu können, müssen wir das Abstraktum notgedrungen wiederum in den Status eines transitorischen resp. persistierenden Konkretums transformieren. Das heißt: Ein Abstraktum können wir nur in Form eines Konkretums erfassen. Wir müssen es ‚zum Leben erwecken‘, müssen den Type, den wir aus den Tokens abstrahiert haben, wieder zum Token machen.

[10] Vgl. meinen Versuch einer Differenzierung der Typen von ‚Type‘ in: Oehm 2023b: 112, insbesondere 118–131. Peirce steht mit seinen Überlegungen knietief im mittelalterlichen Universalienstreit – hier die Position der Realisten, dort die antagonistische der Nominalisten. Immer, wenn man denkt, dieser uralte Streit sei zugunsten des nominalistischen Konzepts universalia sunt post rem entschieden, flammt er in modifizierter Gestalt wieder auf: Wörter (Typen) sind ‚präexistent‘, im Gebrauch (Tokens) werden sie verwirklicht. Dieser platonischen Vorstellung steht die nominalistische Auffassung gegenüber: Es sind die Wörter (Tokens), von denen wir im Nachhinein die ‚Wörter‘ (Typen) abstrahieren. Das heißt: Nicht die Typen sind den Tokens vorgängig, vielmehr sind die Tokens den Typen vorgängig. Demgegenüber vertritt Reinold Schmücker eine zwischen beiden Positionen vermittelnde Ansicht: „Die Relation zwischen Kunstwerken (Typen) und ihren Vorkommnissen (Tokens) ist in der Gleichursprünglichkeit von Kunstwerken und ihren jeweiligen physischen Originalmanifestationen fundiert“ (Schmücker 2009: 36, Hervorhebung SO). Diese handlungslogisch recht problematische These habe ich in Oehm 2023b: 32–34 ausführlich diskutiert.

[11] Vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung mit der bemerkenswerten Position von Andrea Polaschegg, die in der Literatur eine Verlaufskunst sieht (in: Oehm 2023b: 292–302).

[12] Ausgespart ist dieser Stelle die überaus heikle Frage, wie vorliegende Notation, die ja eine persistierende Entität ist, verbindlich und eindeutig als Notation eines bestimmten literarischen (oder auch musikalischen) Werks, das ja ein transitorisches Ereignis ist, identifiziert werden kann: Kann überhaupt etwas, was flüchtig ist, mit etwas identifiziert werden, was persistiert? Zumal das Persistierende, die Notation, ja von uns mittels der Perzeption erst in einen transitorischen Zustand transformiert werden muss, um für uns zu sein. Und sollte dies alles wider Erwarten möglich sein: Wer besitzt die Kompetenz, die Identität festzustellen? Aufgrund welcher Kriterien kann die Identität verbindlich festgestellt werden? Wer besitzt die Kompetenz, diese Kriterien zur Identitätsfeststellung verbindlich festzulegen? Wer legt die Kriterien fest, die Kompetenz festzustellen, diese Kriterien verbindlich festzulegen? Wer besitzt die Kompetenz, die Kriterien festzulegen, die Kompetenz festzustellen, diese Kriterien verbindlich festzulegen? Und wer legt wiederum die Kriterien fest, die Kompetenz festzustellen, die Kriterien festzulegen, die Kompetenz festzustellen, diese Kriterien verbindlich festzulegen? Unschwer zu erkennen, dass wir hier in einem iterativen Regress gefangen sind – jede Frage generiert eine Nachfrage. Ersichtlich ist diese Argumentation der fallibilistischen Philosophie Hans Alberts und damit der Ablehnung jeglicher Letztbegründungsansprüche verpflichtet (Albert 1991/2010). Auch dem, dass ich mit dem Gesagten recht habe.

[13] Zwischen beiden Gegebenheiten besteht ein entscheidender Unterschied: Ist die Menschheit gegeben, sind die amorphen Kleckse potentiell aktualisierbar und damit kontextualisierbar. Ist die Menschheit hingegen nicht mehr gegeben, sind die amorphen Kleckse prinzipiell non-aktualisierbar und damit non-kontextualisierbar.

[14] In einer begriffsgeschichtlichen Skizzierung zeigt die Kulturwissenschaftlerin Andrea Polaschegg auf, dass der Werkbegriff im Laufe des 18. Jahrhunderts im Deutschen eine gleich „zweifache Transformation durchlaufen (hat): Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde darunter ausschließlich ein Arbeitsprozess verstanden, der in der gegenwärtigen Alltagssprache über Komposita wie ‚Tagewerk‘ oder ‚Handwerk‘ noch mitgeführt wird“ (Polaschegg 2019: 402). Allerdings ist eben diese „performative Bedeutungsdimension“ (ebd.: 403), zeitlich parallel zur Entwicklung der eigenständigen philosophischen Disziplin ‚Ästhetik‘, bis Ende des 18. Jahrhunderts „zugunsten der heute geläufigen Bezeichnung eines Ergebnisses oder Produkts solcher Arbeitsprozesse“ (ebd.: 402–403, Hervorhebung SO; vgl. auch Polaschegg 2020: 281–283) zurückgedrängt worden. Mit dem Bedeutungswandel des Begriffs ‚Werk‘ vom Prozess hin zum Produkt ging die weitgehende Beschränkung der Etikettierung ‚Kunstwerk‘ auf physisch-haptische Resultate künstlerischen Schaffens in der bildenden Kunst einher. Was vice versa bedeutet, dass wir die Etikettierung ‚Kunstwerk‘ bei ephemeren Resultaten künstlerischen Schaffens nur äußerst zögerlich vornehmen – wohl ein Indiz dafür, dass wir spüren, dass das Begriffsinventarium persistierender Entitäten transitorischen Ereignissen nicht adäquat ist. Wer käme auf die Idee, Tschick von Wolfgang Herrndorf, Das Treibhaus von Wolfgang Koeppen oder Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin ein ‚Kunstwerk‘ zu nennen? Oder Die Vögel von Aristophanes, König Ödipus von Sophokles, Hamlet von Shakespeare? Purple Rain von Prince, Star Spangled Banner von Jimi Hendrix oder So what von Miles Davis? Selbst beim Wozzeck von Alban Berg, dem Praeludium der Klaviersuite op. 25 d von Arnold Schönberg, L’Orfeo von Claudio Monteverdi oder den Arbeiten von Pina Bausch ist es durchaus nicht üblich, sie als ‚Kunstwerke‘ zu bezeichnen. Noch schwerer tun wir uns damit, etwaige Aufführungen von Die Vögel, König Ödipus, Hamlet, Purple Rain, Star Spangled Banner, So what, Wozzeck, Praeludium der Klaviersuite op. 25 d, L’Orfeo oder von Pina Bauschs Arien, Bandoneon oder Palermo Palermo so zu nennen.

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