Ein Hoax?
"Ihr aber lernet, wie man sieht statt
stiert
Und
handelt, statt zu reden noch und noch.
So
was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die
Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass
keiner uns zu früh da triumphiert
Der
Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."
Bertolt Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941)
Bertolt Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941)
Das Christentum ist in akuter Gefahr. Und damit wir,
das christliche Abendland und mit ihm die christlichen Werte. Was wir derzeit erleben,
ist eine „Völkerwanderung nach Europa“.
Eine „Flüchtlingsinvasion“, ein „muslimischer Migrationstsunami“. So
dräut es bereits in den einschlägigen, radikal-nationalistischen Foren und
Blogs. Ganz offen, ganz aktuell. Und ganz ungeniert. Perfide setzt, so dort der
Tenor, der Islam „bei seinem dritten Versuch, das christliche Abendland zu
okkupieren ... die Waffen der mitleidserregenden Bilder“ ein, mit denen die
deutsche Regierung und die „sie unterstützenden, weitgehend gleichgeschalteten
Medien“ nun systematisch die „deutschen Gutmenschen durch monatelange
Gehirnwäsche auf Empathie“ programmiert.
Es ist „das
Reptil Merkel“, das den Deutschen „den finalen migrantiven Todesstoß zu setzen“
versucht. Denn „das Reptil besteht nur aus Lüge und Grausamkeit, diese Kreatur
hat nichts mehr mit einem Menschen zu tun.“ Und die in Griechenland
gestrandeten Flüchtlinge sind mitnichten Flüchtlinge, sondern reine „Wohlstandsreisende“.
Sollten „die Kinder der Reiseparasiten jetzt grausam zugrunde gehen, hat das
unmenschliche Reptil (das) allein zu verantworten“. Was ja fast schon wieder
ein Glück für uns wäre, würden doch sonst „die von Tillich und Merkel
Hereingeholten ... in der BRD vergewaltigen, Kinder schänden, rauben, morden
und sich sonst mit Verbrechen die Zeit vertreiben“.
Als wäre unsere „migrantive Ausrottung“ nicht schon Unheil
genug, erfährt man in diesen Foren und Blogs auch, wer eigentlich hinter der prognostizierten
Abschaffung des Euro-Bargelds und der – in der Tat ja äußerst bedenklichen – Datensammelwut
von Google, Amazon, Facebook & Co., die diversen Geheimdienste von NSA über
GCHQ bis FSB nicht zu vergessen, steckt. Es werden hier alle Puzzleteile sorgsam
in eins gefügt und ein intentionaler, kausaler Zusammenhang hinterlegt. Wer hernach als
zentrale, weltverschwörerische Steuerungseinheit zur Auslöschung unserer
abendländischen Kultur identifiziert wird? Man glaubt es kaum, es ist ein alter
Bekannter: „das internationale Finanzjudentum“.
Der ewige Jude. Scheint einfach nicht totzukriegen zu sein. Und
jetzt macht er auch noch gemeinsame Sache mit dem Muselmanen, der in dem gewaltigen
muslimischen Migrationstsunami Europa
flutet. Völlig klar, dass da „anständige, ethnische
Deutsche“ ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten müssen, „nur weil sie
öffentlich die Holocaust-Lüge entlarven“. Aber es besteht Hoffnung, denn der
„bereits zum Untermenschen heruntergeschändete deutsche Mensch steht noch
einmal auf“. Und am Ende des Kampfes wird „das künftige Deutsche Reich nur von
ethnischen Deutschen und authentischen Europäern besiedelt werden“.
Die Sozialpsychologie weiß seit langem, dass
Täter auf ganz menschlich-allzumenschliche, intuitive Rechtfertigungsstrategien
setzen, nach der sie, wie Steven Pinker sagt, sogar „ehrlich an ihre Version der Geschichte (glauben), wonach sie das
unschuldige, seit langem leidende Opfer“ sind. Dies ist hier nicht anders. Ja,
es ist sogar geradezu der Prototyp dieses Argumentationsstereotyps: Der Täter
handelt in reiner Notwehr, die vermeintlichen Opfer entpuppen sich als die
eigentlichen Täter. Und damit, vice versa, die Täter als die wahren Opfer.
Durch diese Umkehrung der Verhältnisse wird in einer Art Befehlsnotstand
vorauseilend alles gerechtfertigt, was folgen mag – alle Folgen haben demnach
die Opfer, die als Täter entlarvt wurden, zu verantworten. Selber schuld.
Durch die vollständig gelungene Internalisierung
dieses Argumentationsmusters, bis hinein in die tausendjährigen
Begrifflichkeiten, glauben diese ‚anständigen Deutschen’, völlig unbelastet von
jedem Selbstzweifel, ganz aufrichtig an die unumstößliche, historische Gültigkeit
ihrer Annahmen und Analysen. Fast schon notwendigerweise muss ihnen da jedwede
gegenteilige Argumentation als schlagender Beweis für ihre Richtigkeit
erscheinen. Eine perfekt gelungene Strategie und hermetisch geschlossene,
monadische Denkstruktur: Es werden aus der Sicht des ‚seit langem leidenden
Opfers’ streng monoperspektivisch nur noch die Fakten wahrgenommen, die genau
in die eigene Argumentationskette passen. Ein konsistente Bestätigung der
eigenen Position, Prognosen und Urteile ist die zwangsläufige Folge.
Self-fullfilling prophecy der perfiden Art.
Wer sich jetzt leicht wohlig-schaudernd wie bei einem skandinavischen Sonntagabendkrimi im Zweiten zurücklehnt und meint, dies sei ein randständiges Phänomen, das ihn nicht weiter betrifft, sollte sich seiner Sache nicht allzu sicher sein. Denn auch wenn hier Argumentationen und Begrifflichkeiten in einer Form auftreten, die zur Gänze in geradezu grotesker Weise mit den propagandistischen Argumentationen und Begrifflichkeiten eines Joseph Goebbels übereinstimmen, heißt es durchaus nicht, dass es sie nicht auch sprachlich und argumentativ als gut verträgliche, leicht verdauliche und bildungsbürgerlich hübsch angerichtete Kost gibt.
Die Sorge der
Bürger, die die Frage umtreibt, ob es denn die Sache wirklich wert sei, „die
Rettung von Menschen aus einem Kulturraum, der uns Christen und Mitteleuropäer
traditionell verachtet oder gar hasst“, in welcher Form auch immer weiter zu betreiben,
wo dies letztlich aber doch nur „Unfrieden, Gewalt und Kosten bringt und unsere
Lebensqualität absenkt“, muss ernst genommen, bedacht und bewältigt werden. Dringend, bevor es zu spät ist.
Aber die vielen durchaus zu Recht besorgten und verängstigten Bürger, die eine
solche Frage seit Monaten immer drängender umtreibt, sollten sich ihrerseits in einer ruhigen Minute, selbstkritisch und in aller Ernsthaftigkeit, einmal die Frage stellen, wie weit sie denn de facto noch von jenen
völkischen Denkmustern entfernt sind.
"Menschen mit einer vorgefassten Meinung
lassen sich fast nie von gegenteiligen Informationen überzeugen. Fakten dringen
nicht mehr zu ihnen durch – und sie interessieren viele Menschen auch nicht
mehr."
Es bleibt nur inständig zu hoffen, dass der SWR-Intendant Peter Boudgoust mit dieser Ansicht voll umfänglich unrecht hat.
Es bleibt nur inständig zu hoffen, dass der SWR-Intendant Peter Boudgoust mit dieser Ansicht voll umfänglich unrecht hat.
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