Autoritätsgebundenheit
als konstitutives Moment
der Waldorfpädagogik
der Waldorfpädagogik
Haltet
die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern! Eine solche Schlagzeile klingt im Zeitalter
der vierten industriellen Revolution und digitalen Transformation unserer Gesellschaft
ein wenig anachronistisch. Schrullig vielleicht. Weltfremd. Naiv. Aber mehr
auch nicht. Könnte man meinen.
Formuliert hat diese Aufforderung kürzlich einer der exponierten Vertreter der Waldorf-Pädagogik, Henning Kullak-Ublick. Immerhin: Vorstand des Bund der freien Waldorfschulen, der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, Gründungsmitglied der Grünen sowie von „Mehr Demokratie“.
Für ihn stellt sich „pädagogisch die Frage, welche Fähigkeiten ein Jugendlicher entwickeln muss, um mit der Technik so frei umgehen zu können, dass er sie sinnvoll einsetzen kann, ohne sich komplett von ihr okkupieren zu lassen“. Die grundsätzliche Herausforderung besteht darin, so Kullak-Ublick, „dass die Kinder als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit im Lauf einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden müssen“.
Formuliert hat diese Aufforderung kürzlich einer der exponierten Vertreter der Waldorf-Pädagogik, Henning Kullak-Ublick. Immerhin: Vorstand des Bund der freien Waldorfschulen, der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, Gründungsmitglied der Grünen sowie von „Mehr Demokratie“.
Für ihn stellt sich „pädagogisch die Frage, welche Fähigkeiten ein Jugendlicher entwickeln muss, um mit der Technik so frei umgehen zu können, dass er sie sinnvoll einsetzen kann, ohne sich komplett von ihr okkupieren zu lassen“. Die grundsätzliche Herausforderung besteht darin, so Kullak-Ublick, „dass die Kinder als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit im Lauf einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden müssen“.
Sie sollen „in ihren ersten Lebensjahren vor allem Erfahrungen außerhalb technisch
gestützter Medien sammeln“, denn, so seine doch recht verblüffende Argumentation,
ihre „spätere Medienkompetenz wurzelt in frühkindlicher Medienabstinenz.“
Nur „wer
als Kind den Geräten fernbleibt, wird später mit ihnen gut umgehen.“ Darauf
muss man erst mal kommen.
Die Medien lösen nach Ansicht von Kullak-Ublick die Dinge
aus ihrem Gesamtzusammenhang, so dass „diese
dadurch ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren“. Um aber Nachrichten
adäquat erfassen zu können, „bedarf es
der Fähigkeit, Zusammenhänge selbst zu erkennen, Wissen aktiv zu beschaffen und
die Qualität einer Quelle zu erkennen“. Dazu ist ein Kind bis zum 12.
Lebensjahr, wie er meint, prinzipiell nicht fähig. Weshalb man es auch prinzipiell
von allen digitalen Medien fernzuhalten hat:
„Beim Thema Computer geht es in der Waldorfpädagogik darum, dass dem selbstständigen Umgang mit dem PC die Bildung eines eigenständigen Urteils vorausgehen sollte. Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen.“
Man könnte nun leicht versucht sein, auf diese Ausführungen auf Basis des aktuellen Forschungsstands der Kognitionswissenschaft zu antworten. Viel interessanter, weil beredter ist es jedoch, sich einmal genauer die philosophisch-pädagogische Blaupause anzuschauen, auf deren Grundlage Kullak-Ublick argumentiert: Rudolf Steiners Lehre der drei Entwicklungsphasen, die der Mensch in seiner Adoleszenz durchläuft – vom Primat des Wollens über das des Fühlens zu dem des Denkens.
„Beim Thema Computer geht es in der Waldorfpädagogik darum, dass dem selbstständigen Umgang mit dem PC die Bildung eines eigenständigen Urteils vorausgehen sollte. Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen.“
Man könnte nun leicht versucht sein, auf diese Ausführungen auf Basis des aktuellen Forschungsstands der Kognitionswissenschaft zu antworten. Viel interessanter, weil beredter ist es jedoch, sich einmal genauer die philosophisch-pädagogische Blaupause anzuschauen, auf deren Grundlage Kullak-Ublick argumentiert: Rudolf Steiners Lehre der drei Entwicklungsphasen, die der Mensch in seiner Adoleszenz durchläuft – vom Primat des Wollens über das des Fühlens zu dem des Denkens.
Rudolf Steiner war bis 1913 einer der führenden
Köpfe der Theosophischen Gesellschaft, eine von unzähligen mystisch-okkulten
Strömungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie die meisten dieser auf gnostische,
buddhistische und altindisch-vedische Elemente zurückgreifenden, eklektizistischen Lehren zeichnete auch die Theosophie nicht allein
ein ausgesprochen esoterisches Weltbild, sondern auch der unerschütterliche „Glaube an die bedingungslose Macht eines
Führers“ (Renè Freund) aus – daran änderte sich auch nichts, als Rudolf
Steiner die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft in die
Anthroposophische Gesellschaft überführte.
Für Steiner war das Wollen die erste Äußerung der
Seelentätigkeit des Menschen. Die, älter geworden, dann zum Fühlen wird. Und
schließlich zum Denken. Dieses ‚Denken’
ist keine rein subjektive Tätigkeit. Es ist
Teilhabe am Weltganzen. Dadurch ist der Mensch „Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein
begrenztes Dasein bestimmt“, durch sie ist er mit dem Kosmos zu einem
Ganzen in eins gesetzt: Das Individuelle hat sich ehrfürchtig diesem ewigen, allgemeinen
Prinzip unterzuordnen, seine absolute Autorität anzuerkennen.
Die Gemeinschaft der Menschen besteht durch den
ideellen Teil, durch „die Einigkeit der
Ideenwelt“ und damit des Weltganzen. „Der
freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus dem
Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt sind.“ Unsere
Individualität konstituiert sich demnach daraus, dass jeder „aus der gemeinsamen Ideenwelt andere
Intuitionen empfängt“.
Wohlgemerkt: von außen empfängt, nicht aus sich selbst heraus hat. Eine freie Handlung eines freien Geistes ist eine, die dieser empfangenden,
passivischen Intuition entspringt, die sich aus der allen Menschen gemeinsamen,
kosmischen Ideenwelt speist: Die Ideenwelt als präexistente, unveränderliche, übermenschliche
Konstante, deren Teilhabe als ‚Freiheit’
und Ausdruck der Individualität apostrophiert wird – welch perfider
Determinismus und Antiindividualismus, der sich hier Bahn bricht.
Dysfunktionalität ist Steiner nicht Quell der
Kreativität und Erneuerung. Im Gegenteil: Sie schadet der Harmonie. Funktionalität
ist ihm deshalb oberstes Gebot. Alles muss allem zuträglich und damit sinnvoll
sein. Einem Zweck dienen. Und dieses
Dienen dient einer Macht, von der Steiner sagt, dass wir nur frei werden, indem
wir uns ihr ganz hingeben: Freiheit ist somit definiert als dienende Hingabe an
das mythische Prinzip der Wiederholung, Wiederaufnahme, Wiedergeburt. Nicht
aber als Freiheit von und Freiheit zu etwas.
Der Unterricht muss zwingend dem Dreischritt der kindlichen
Entwicklungsphasen, der Lebensjahrsiebte,
folgen: Wollen. Fühlen. Denken. Wobei, warum wohl?, diese Trias in allen
aktuellen Schriften zur Waldorfpädagogik in
zeitlich umgekehrter Reihenfolge zitiert wird: Denken,
Fühlen, Wollen. Hier
steht das Denken an erster Stelle, de facto aber an letzter Stelle.
Wie dem auch sei: Die zweite Phase, die des
Fühlens und Empfindens, ist von besonderem Interesse. Ist
sie doch die, auf die Henning Kullak-Ublick mit seiner Aufforderung
‚Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!’ explizit
Bezug nimmt.
„Bis zur Geschlechtsreife’“ sieht sich das Kind, so Steiner, noch nicht als Subjekt. Jetzt, wo das Körperliche langsam ins Geistige tritt, aber noch nicht wahrhaft des Denkens und der Reflexion fähig ist, bedarf das Kind einer verkörperten Moral. Einer personifizierten Autorität. Und was diese tut, „wird unter dem Autoritätsgefühl von dem Kind als das Richtige angesehen“.
Personifizierung und damit Stellvertreter dieser „natürlichen Autorität“ und Moral ist natürlich
niemand anderes als der Erzieher selbst. Er ist derjenige, den das Kind als
Autoritätsperson sucht, der, so heißt es heute noch in jeder Broschüre zur
Waldorfpädagogik, „weiß, was richtig und
was falsch ist“ und der in dem Kind ein Autoritätsgefühl zu entwickeln hat,
dem es sich unterzuordnen hat. Gehorsam, ohne Widerspruch. Es soll unter Führung
der absoluten Autorität auf Befehle zur Kultivierung des Tuns reagieren, es
soll befolgen, nachahmen, repetieren, reproduzieren.
Bis etwa zum zweiten Lebensjahrsiebt, dem
14. Lebensjahr, haben die Kinder
rein affirmativ zu lernen. Alles strebt zum Einverständnis, zur notorisch unkritischen
Aufnahme und Wiedergabe – ein Konzept mit erschreckenden Parallelen zu den Koranschulen
der Moscheen. Hier wie dort gilt das, was Abdel-Hakim Ourghi in einem aktuellen
F.A.Z.-Artikel in Bezug auf eben jene Koranschulen
als „Pädagogik der Unterwerfung“
bezeichnet:
„Von den Schülern wird erwartet, dass sie die verkündigten Wahrheiten widerspruchslos akzeptieren. (...) Es geht nicht um ihren persönlichen Reifeprozess, sondern um die autoritative Vermittlung des religiösen Stoffs. Dieses Erziehungsmodell ist realitätsfern und entfremdet die Kinder ihrer Lebenswirklichkeit.“
„Von den Schülern wird erwartet, dass sie die verkündigten Wahrheiten widerspruchslos akzeptieren. (...) Es geht nicht um ihren persönlichen Reifeprozess, sondern um die autoritative Vermittlung des religiösen Stoffs. Dieses Erziehungsmodell ist realitätsfern und entfremdet die Kinder ihrer Lebenswirklichkeit.“
In dem, was der Erzieher vorgibt, haben die
Kinder das zu sehen, was richtig ist. Wonach es sich zu streben lohnt. Sie haben
sich in ihrem Handeln an die durch den Erzieher verkörperte absolute,
natürliche Autorität zu halten. Unbedingt. Unreflektiert. Sie lernen so, bestehende
Machtverhältnisse quasi als Gott gegeben zu akzeptieren, sie zu
internalisieren, in alle Ewigkeit fortzuschreiben.
„Die Urteilsfähigkeit steht
Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur
Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte
vorzunehmen“, so Henning Kullak-Ublick. Dies zeitigt den Eintritt in die dritte Phase, in
der das Denken das Primat übernimmt. Der Mensch wird jetzt eigentlich erst zum
Menschen. Er beginnt, sich als Subjekt zu fühlen. Und das bewusst zu verarbeiten,
was in ihm als bis dato nicht recht des Denkens fähiges Wesen implementiert
wurde.
Erst jetzt, wo ihm
über Jahre hinweg die völlige Autoritätshörigkeit als gültiges Lebensprinzip
ganzheitlich eingetrichtert wurde, wird er für fähig befunden, sich selber Urteile bilden zu können. An dieser Stelle
bekommt die zuvor als etwas schrullig empfundene Argumentation von Kullak-Ublick ein ziemlich unangenehmes Geschmäckle. Sicherlich von ihm unbeabsichtigt,
strukturell aber bereits deutlich in der Steinerschen Philosophie als Grundlage
seiner Pädagogik angelegt:
Die pädagogisch verantwortete Fortschreibung der Autoritätsgebundenheit. Kann das, angesichts der reaktionären, radikal-populistischen und autoritär-religiösen Strömungen, die sich derzeit weltweit bräsig breit machen, im Sinne einer zeitgemäß aufgeklärt-aufklärerischen und egalitären Erziehung sein?
Nein. Denn
„Erziehung“, so Theodor W. Adorno in
seinem wegweisenden Aufsatz ‚Erziehung
nach Auschwitz’, „ist sinnvoll überhaupt nur als eine zu
kritischer Selbstreflexion“ zu denken.
Die
Ergebnisse der Studien „Die Mitte in der
Krise“, die Decker/Weißmann/Kiess/ Brähler 2010 vorlegt haben, zeigen
nachdrücklich, wie entscheidend es für den
Bestand einer Demokratie ist, sich dieses Erziehungsideal tagtäglich immer wieder
aufs Neue vor Augen zu halten und alle pädagogischen Maßnahmen danach
auszurichten. Die Menschen müssen, so
die Autoren, im Alltag Demokratie erfahren, „indem sie z.B. vom Kindergarten bis zum Arbeitsplatz mehr in
Entscheidungen einbezogen und sich dann auch nicht mehr als Gelenkte und
Gesteuerte empfinden“.
Diese Langzeit-Studien
der Friedrich-Ebert-Stiftung legten offen, „welch
erschreckend hohe Zustimmung rechtsextreme, fremdenfeindliche, antisemitische
und menschenfeindliche Aussagen 60 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus in
Deutschland erfahren“. So ist „das
zentrale Ergebnis der Studie ‚Vom Rand zur Mitte’“ (2006), dass sich
verfestigte rechtsextreme Einstellungen nicht nur am Rand der Gesellschaft,
sondern auch in deren ‚Mitte’ finden“. Wie gesagt: Das waren die Ergebnisse von 2006. Wie würden sie wohl heute,
2016, nach dem vermeintlich apokalyptischen ‚Migrationstsumani’ muslimischer Ethnien ausfallen? Nicht
auszudenken.
Verfestigte
rechtsextreme Einstellungen ausgerechnet in eben jener Mitte, die sowohl CDU als auch SPD als ihre Kernwählerschaft
zu definieren versuchen? Eben die Bevölkerungsgruppe, die eine hohe Affinität
zu pädagogischen Modellen wie die der Waldorf-Schule besitzt?
Die
Sozialisation, „der mit der Kindheit
beginnende, aber nicht endende Prozess des Hineinwachsens in die Gesellschaft“,
ist ganz wesentlich für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung verantwortlich.
So lautete bereits in den 1930er Jahren das Ergebnis der „Autoritätsstudien, die im Umfeld des exilierten Frankfurter Instituts
für Sozialforschung entstanden sind“.
„Die Ausbildung der Individualität ist
untrennbar mit der Vermittlung der Normen und Rollenerwartungen zu verstehen.“
In diesem Prozess wird dem Menschen von Kindheit an vermittelt, wer er ist und
wer er zu sein hat. An diesen Normvorstellungen hat das Individuum seine
Handlungen zu orientieren – Freud nannte es das „Über-Ich“, das Gewissen, das zur
immanenten, immerwährenden Kontrollinstanz ausgebaut wird.
Die „Vergesellschaftung in eine autoritär
strukturierte Gesellschaft“ findet, das war Herbert Marcuse schon 1963
klar, nicht allein in der Familie statt, sondern im Freundeskreis und „unmittelbar durch Massenmedien, Schul- und Sportgruppen“.
Konstitutives
Moment einer solchen Sozialisation ist immer Gewalt. Wobei es sich dabei durchaus
nicht um plumpe körperliche Gewalt handeln muss. Viel effektiver ist oftmals
subtiler psychischer Druck, der ein nicht minder großes Gewaltpotenzial besitzt.
So ist es in der Philosophie und Pädagogik Steinerscher Prägung gerade nicht
die körperliche Gewalt, sondern eher eine sanfte, fast liebevoll anmutende, aber
nicht minder nachdrücklich angestrebte Unterwerfung unter eine quasi
gottgegebene Autorität und ebensolche Ordnung.
Auch eine
solcherart konstituierte Autoritätshörigkeit kann, sicher nicht intendiert,
aber eben strukturell inhärent, zu einer Autoritätsidentifizierung führen. Und
damit zum Wunsch, diese Autorität gegenüber Anderen, Ausgegrenzten, Schwächeren,
Fremden, Feinden in einer Art sozialen Übersprungshandlung auszuspielen: Aus
der Unterwerfung unter eine Autorität erwächst die Lust zur autoritativen
Aggression. Wobei sich auch diese Aggression nicht zwingend körperlich äußern
muss, sondern einen ebenso sanft anmutenden Charakter wie die ehedem erfolgte pädagogische
Einflussnahme besitzen kann.
In diesem die
bestehenden Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue reproduzierenden Modell,
unkritisch und unreflektiert in die pädagogische Realität verfrachtet,
schlummert demnach in der Mitte unserer Gesellschaft ein gewaltiges Potenzial
antidemokratischer Sozialisation, das beizeiten hervorbrechen kann.
Ein
weiteres Phänomen einer solcher Autoritätshörigkeit und -identifizierung ähnelt
der Sublimierung. So hatte Marcuse, darauf weisen Autoren der Studie hin, erkannt,
dass eine absolut gesetzte Autorität im Laufe der Sozialisation eines Menschen in
den verschiedensten Erscheinungsformen auftreten kann:
„Er war der Ansicht, dass die Identifikation
mit dem Führer in einer autoritären Gesellschaft durch etwas Abstrakteres –
Nationalstolz, starke D-Mark oder Kapitalismus – ersetzt werden kann.“
Konsum als
Alltagsreligion, wirtschaftlicher Wohlstand als Himmelreich auf Erden. Sie haben das Potenzial eines „gemeinsamen Ideals Vieler“, sie können also solch ein Ersatz oder
Substitut der Autorität, mithin eine abstrakte
Autorität sein, mit der wir uns identifizieren. Die wir aggressiv zu
verteidigen suchen, wenn ein Verlust, ein Liebesentzug des Marktes droht:
Abwärtsbewegungen des sozialen Status, wenn auch nur als Teufel an die Wand
gemalt, beeinflussen massiv die politische Einstellung des Einzelnen.
Durch eine
solche Bedrohung, selbst wenn sie objektiv nicht gegeben sein sollte und nur
subjektiv empfunden wird, sind wir, durch unsere Identifikation mit der abstrakten
Autorität, die in Gefahr zu sein scheint, selber in Gefahr.
Dies
bringt, darauf weisen die Autoren nachdrücklich hin, „den viel belegten Zusammenhang von ökonomischer Lage und politischer
Einstellung noch einmal von einer ganz anderen Seite in die Diskussion. Hier
ist ein Grund dafür zu suchen, dass die gesellschaftliche Mitte in Zeiten der
Krise auch immer eine Mitte in der Krise ist.“
Der
Soziologe Theodor Geiger hat bereits 1930 darauf aufmerksam gemacht, dass die
Angst des Mittelstands vor einem sozialen Abstieg, ob nun begründet oder nicht, Ursache einer „ideologischen Verwirrung“ sein kann. So damals geschehen bei „der panikartigen Wählerwanderung einer
Mittelschicht“ von den bürgerlichen Parteien hin zur NSDAP. So heute
strukturell analog wieder bei den Wählerwanderungen zu den rechtspopulistischen
bis reaktionären Parteien a la AfD, FPÖ und Front National zu beobachten.
„Deutschland geht es so gut wie nie“
konstatiert in einem aktuellen Beitrag für die F.A.S. der Soziologe Heinz Bude.
Aber dennoch es ist so, „dass jeder
Dritte sich abgehängt fühlt“. Dazu gehören nicht zuletzt „die Verbitterten der deutschen Wohlstandsmitte“.
Sie sind gebildet, finanziell abgesichert, sozial etabliert – aber ausgestattet
mit einem ausgeprägten „Degradierungserleben“.
Wohin
solche Empfindungen, solch ein Fühlen und Erleben in letzter Konsequenz führen
können, zeigt eindringlich das Ergebnis einer Befragung von Decker, Kiess,
Brähler aus dem Jahr 2008:
„Die antidemokratische Einstellung ist in
Deutschland nicht gering ausgeprägt. Die höchsten Zustimmungen erfährt die
Befürwortung einer Diktatur mit einer völkischen Begründung. Die Fiktion eines
Volkes als Schicksalsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Interesse, das von
einer Partei verfolgt wird, findet Zustimmung bei gut einem Viertel der
Deutschen. Einen Führer wünscht sich immerhin noch mehr als jeder zehnte
Deutsche.“
Das Volk
als Schicksalsgemeinschaft. Als Masse. Gleichgeschaltetes kollektives Subjekt. Dieser
unsägliche Pluralis Majestatis: ‚Wir’.
Hinlänglich bekannt aus autoritärer Sozialisation nationalsozialistischer,
stalinistischer, maoistischer, aber durchaus auch evangelikaler oder radikalislamischer
Prägung. Bei der man, auch sprachlich, heute wieder Anleihen nimmt, wenn die
wabernde Masse „Wir sind das Volk“
krakelt. Und gleichzeitig „Ihr seid
der Abschaum“ meint. Chauvinistische Selbstaufwertung geht nun mal immer mit
Fremdabwertung einher.
Das wahrhaft Bedrohliche ist, dass die ökonomische Realität gerade auf dem besten
Wege ist, die absurdesten irrationalen Empfindungen zu bestätigen. Unlängst
erst hat der Ökonom Thomas Piketty nachweisen können, dass die Schere der Einkommen
weltweit eklatant weit und immer weiter auseinander geht, die Gruppe der mittleren
Einkommen zunehmend kleiner wird. Und damit die Angst des Mittelstands vor
sozialem Abstieg mittlerweile durchaus begründet ist. Wenn auch aufgrund gänzlich
anderer Ursachen, Stichwort ‚Migrationstsunami’, als von ihm befürchtet.
Die Reichen hängen also de facto die
Mittelschicht, die, gerade in Krisenzeiten, die derzeit fast alle
Industrieländer durchmachen, zudem immer weiter schrumpft, schlichtweg ab. Wer hat, dem wird gegeben. Diese Plattitüde
erweist sich leider immer öfter als objektiv zutreffende Zustandsbeschreibung.
Das
Phänomen „Rechtsextremismus“ ist, so
resümieren die Autoren der Studie, kein Phänomen der Rechten – es ist ein
Phänomen, das in der Mitte unserer Gesellschaft verankert und „in allen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet“
ist: „Die Bedrohung der Demokratie ist
nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu
verstehen.“ Geht es dem Mittelstand nicht nur subjektiv, sondern
objektiv schlechter, sucht er sich schneller und radikaler seine Ventile,
als einem lieb sein kann. Was schon Ralf Dahrendorf wusste: „Die Zerstörung der Demokratie ist ein Werk
des Mittelstandes.“
Die „autoritäre Unterwerfung“ ist, zumal in
Zeiten der Krise, eine der wesentlichen Kriterien dafür, dass es zu einer
antidemokratischen Einstellung und damit zu einer ganz und gar nicht mehr schleichenden,
sondern zügigen Zerstörung der Demokratie kommen kann. Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno warnen bereits 1952 in den Frankfurter Heften in ihrem Bericht
„Vorurteil und Charakter“:
„Diese Autoritätsgebundenheit bedeutet (...)
die bedingungslose Anerkennung dessen, was ist und Macht hat und dem
irrationalen Nachdruck auf konventionelle Werte (...) und entsprechend auf
konventionelles, unkritisches Verhalten. (...) Man verhält sich unterwürfig zu
den idealisierten moralischen Autoritäten der Gruppe (...), steht aber zugleich
auf dem Sprung, den, der nicht dazugehört (...) zu verdammen.“
Der
wirkmächtigste Schutzfaktor gegen antidemokratische, autoritäre Strukturen, Mechanismen
und Einstellungen ist Bildung, Bildung, Bildung. Wenn Bildung aber selbst, wie im
philosophisch-pädagogischen Kosmos des Rudolf Steiner, autoritär organisiert ist,
zementiert sie diese Strukturen: Die Kinder haben sich mit der Autorität zu identifizieren.
Was, wenn das nicht unterbunden wird, dazu führen kann, dass sie sich ihr autoritär
strukturiertes Substitut suchen werden. Irgendwann. Irgendwo. Irgendwie.
Um das zu
verhindern, könnte „eine wesentliche
Voraussetzung für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung (...) sein,
bereits in den pädagogischen Konzepten dafür zu sorgen, dass kindlichen
Bedürfnissen ohne Unterwerfung unter eine Autorität Geltung verschafft wird.“
Dem ist
nichts hinzuzufügen.
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