Sarrazynismus
Um es gleich vorweg
zu nehmen: Ja, Politik und Gesellschaft befinden sich angesichts der dramatischen
Entwicklung im Nahen Osten, dem radikal-missionarischen Eifer und Geifer der
sogenannten Islamisten von Nigeria bis Mossul und der immer weiter
auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich selbst in den
Wohlstandsnationen dieser Welt in einer „Phase
der Ratlosigkeit“. Eine Phase, die zunehmend einer Paralyse zu gleichen
scheint.
Insofern hat Thilo
Sarrazin sicherlich nicht ganz unrecht mit seiner Zustandsbeschreibung, die er kürzlich
in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. formuliert hat. Auch damit nicht, dass
diese Phänomene durchaus das Potenzial haben, die Welt in den kommenden Jahren
derart durchzuschütteln, dass einem jetzt schon ganz schwindlig wird.
Nun nutzt es aber wenig,
nur die Symptome zu bekämpfen. Manchmal ist dabei sogar der Schaden größer als
der Nutzen. Gerade, wenn es sich um menschliche Kollateralschäden handelt. Nicht
ohne Grund macht sich Sarrazin also auf die Suche nach den Ursachen für die
verschiedenen Dilemmata, denen wir uns heute gegenübersehen. Denn auch er weiß,
dass man um die Bedingungen wissen muss, die zu ihnen geführt haben, um Strategien
entwickeln zu können, die uns gangbare Wege aus diesen Dilemmata weisen können.
Und Sarrazin wird,
natürlich, fündig:
„Aus der
soziologischen Forschung ist bekannt, dass das gegenseitige Vertrauen – das
sogenannte soziale Kapital – in einer Gesellschaft abnimmt, wenn deren
ethnische und kulturelle Diversität zunimmt."
Man ist beeindruckt
ob dieser so glasklaren wie verblüffend einfachen Erklärung. Solange, bis man
sich die defätistische Frage nach der Herkunft der soziologischen Forschung
erlaubt, auf die er sich da beruft. Sarrazin nennt keine Referenzen, keine
Namen, keine Studien. Er stellt einfach eine Behauptung in den Raum und
definiert sie als finales Resultat. Und zwar nicht etwa das irgendeiner nachrangigen
Forschungsgruppe aus dem hintersten Absurdistan, sondern das der soziologischen
Forschung als solche.
Aber angenommen, es gibt
tatsächlich ein valides Forschungsergebnis mit exakt diesem Resümee. Was besagt
es? Das es so sein kann. Aber besagt
es auch, dass es generell der Fall
ist? Machen wir doch mal die historische Nagelprobe. Und fragen uns, was es mit
der Fülle an ethnischen und kulturellen Schmelztiegeln auf sich hat, die uns
die letzten 2500 Jahre beschert haben? Was war mit Rom, Alexandria, Jerusalem, Konstantinopel,
Samarkand, Bagdad, Lemberg oder Rustschuk, der Geburtsstadt von Elias Canetti
im heutigen Bulgarien, von der dieser Jahrzehnte später noch schwärmte?
„Rustschuk,
an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt, an einem
Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Es wird mir schwerlich gelingen,
von der Farbigkeit dieser frühen Jahre in Rustschuk, eine Vorstellung zu geben.
Die übrige Welt hieß dort: Europa! Europa begann dort – wo das türkische Reich
einst geendet hatte."
Es waren alles Orte,
in denen über Jahrhunderte eine große und, im historischen Weltmaßstab, sogar
recht friedvolle „ethnische und kulturelle
Diversität“ und Koexistenz geherrscht hat, dass einem die heutigen Zustände
in Berlin, Offenbach oder Marxloh grau und uniform, aggressiv und rückständig
erscheinen. Oder was ist, zum Beispiel, mit der außerordentlich großen ‚ethnischen Diversität’, die auch heute
noch entlang der alten Seidenstraße herrscht?
Sarrazin kleidet in
seinen Texten Behauptungen gerne als unumstößliche Fakten und damit als
Prämissen für seine Thesen. In der Logik können falsche Prämissen durchaus zu
einer richtigen Konklusion führen, im realen Leben ist das eher selten. Als
pragmatischer Volkswirt weiß er das natürlich. Weshalb man sich nicht des
Eindrucks erwehren kann, dass er den Spieß einfach umdreht und von der
Betrachtung des realen Lebens ausgehend rückwirkend seine Prämissen formuliert.
Und da seine Zustandsbeschreibungen ja durchaus um real existierende Probleme
kreisen, erscheinen so die Prämissen, zumindest für zahlreiche seiner Leser und
Anhänger, als wahre Annahmen. Voilá!
Leider führt eine
solche Vorgehensweise gerne zu einer geradezu klassisch populistischen
Argumentationsstruktur: Ich behaupte irgendeinen Mumpitz. Und leite dann alles
Weitere davon ab. Ein weiteres Beispiel gefällig?
„Dieses Sentiment
ist offenbar in der Evolution tief verwurzelt. Man sieht das daran, dass die
Feindseligkeit zwischen ethnischen Gruppen, die durch die Umstände zum
Zusammenleben gezwungen sind, umso höher ist, je weiter die von den Gruppen
gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander
entfernt liegen."
Es fängt bei ihm,
wieder mal, mit einer biologistischen Prämisse an, einer vermeintlich „in der Evolution tief verwurzelten“ Feindseligkeit
bestimmter ethnischer Gruppen. Woher bezieht der Mann diese Weisheiten? Wird
ihm gar nicht bewusst, dass er mit solchen unreflektiert in die Welt gesetzten
Behauptungen einzig und allein völkische Stereotypen bedient, die begeistert
aufgenommen und fürderhin von genau denen zitiert werden, mit denen er sich
seiner Ansicht nach völlig zu Unrecht in einen populistischen Topf geworfen
sieht?
Nach dieser
biologistischen Einleitung vollzieht er mitten im Satz eine bemerkenswerte
Volte und schwenkt argumentativ auf die historische Sprachwissenschaft um: Die
Feindseligkeiten, so erklärt er im Duktus der völligen Gewissheit, sind umso
größer, „je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum
der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen."
Faszinierend. Und
hanebüchen. Nach dieser Logik hätte es im vorkolonialen Afrika, wo es
bekanntermaßen prozentual nicht nur die mit Abstand meisten Sprachen und
Idiome, sondern auch die im Stammbaum der menschlichen Sprachen am weitesten
voneinander entfernt liegenden Sprachen gibt, praktisch keine Bevölkerung mehr
geben dürfen. Und warum sich Buren und Briten dort gegenseitig die Köpfe
eingeschlagen haben, dürfte dann auch ein Mysterium der Menschheitsgeschichte
bleiben.
Bewegt er sich hier
als Volkswirt noch auf fremdem Terrain, weshalb er vielleicht für solche Einlassungen
bei dem einen oder anderen auf eine gewisse Nachsicht hoffen kann, kann die
nächste nicht mehr als Lapsus durchgehen:
„Einwanderung ist nämlich wirtschaftlich nur dann
positiv, wenn die Einwanderer im Durchschnitt qualifizierter sind als die
aufnehmende Bevölkerung, anderenfalls verbraucht sie Wohlstand, statt ihn zu
schaffen.“
So so. Dann handelte
es sich also bei den rund 2,6 Millionen Arbeitsmigranten, die von 1956 bis 1973
nach Deutschland kamen und blieben, in der Regel um hochqualifizierte Fach- und
Führungskräfte. Oder will uns Sarrazin weismachen, dass die Arbeitsmigranten
mehr Wohlstand verbraucht als geschaffen haben und deshalb die Einwanderung ökonomisch
negativ war? Oder will er, der alte Sprachfuchs, etwa behaupten, dass es sich
bei den Arbeitsmigranten de facto gar nicht um Einwanderer handelt, sondern nur
um Personen mit zeitlich begrenztem Aufenthaltsstatus?
Ist das nun einfach alles
nur hanebüchen, unredlich oder populistisch, was Sarrazin schreibt und Land
auf, Land ab in unzähligen Vorträgen und Talkshows von sich gibt? Will er
hetzen, Stimmung machen, Subversion betreiben? Oder ist er die gute, naive
Seele, die ehrliche Haut, die doch nur das Beste für Deutschland will? Oder,
jetzt wird’s richtig spannend, ist er ein ganz gerissener Profiteur, der faustisch
mit den absurdesten Thesen auf die dramatischen Gegenwartsprobleme aufsetzt und
dumpfe, archaische Urängste bedient, einzig um daraus belletristisch Kapital zu
schlagen – und dabei gar nicht an einer ernsthaften Lösung interessiert ist, weil
sich dann ja seine Bestseller nicht mehr wie geschnitten Brot verkaufen würden? Das
wär’ doch mal eine Pointe.
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