Mittwoch, 8. Juni 2016


Sarrazynismus


Um es gleich vorweg zu nehmen: Ja, Politik und Gesellschaft befinden sich angesichts der dramatischen Entwicklung im Nahen Osten, dem radikal-missionarischen Eifer und Geifer der sogenannten Islamisten von Nigeria bis Mossul und der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich selbst in den Wohlstandsnationen dieser Welt in einer „Phase der Ratlosigkeit“. Eine Phase, die zunehmend einer Paralyse zu gleichen scheint.

Insofern hat Thilo Sarrazin sicherlich nicht ganz unrecht mit seiner Zustandsbeschreibung, die er kürzlich in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. formuliert hat. Auch damit nicht, dass diese Phänomene durchaus das Potenzial haben, die Welt in den kommenden Jahren derart durchzuschütteln, dass einem jetzt schon ganz schwindlig wird.


Nun nutzt es aber wenig, nur die Symptome zu bekämpfen. Manchmal ist dabei sogar der Schaden größer als der Nutzen. Gerade, wenn es sich um menschliche Kollateralschäden handelt. Nicht ohne Grund macht sich Sarrazin also auf die Suche nach den Ursachen für die verschiedenen Dilemmata, denen wir uns heute gegenübersehen. Denn auch er weiß, dass man um die Bedingungen wissen muss, die zu ihnen geführt haben, um Strategien entwickeln zu können, die uns gangbare Wege aus diesen Dilemmata weisen können.

Und Sarrazin wird, natürlich, fündig:
Aus der soziologischen Forschung ist bekannt, dass das gegenseitige Vertrauen – das sogenannte soziale Kapital – in einer Gesellschaft abnimmt, wenn deren ethnische und kulturelle Diversität zunimmt."

Man ist beeindruckt ob dieser so glasklaren wie verblüffend einfachen Erklärung. Solange, bis man sich die defätistische Frage nach der Herkunft der soziologischen Forschung erlaubt, auf die er sich da beruft. Sarrazin nennt keine Referenzen, keine Namen, keine Studien. Er stellt einfach eine Behauptung in den Raum und definiert sie als finales Resultat. Und zwar nicht etwa das irgendeiner nachrangigen Forschungsgruppe aus dem hintersten Absurdistan, sondern das der soziologischen Forschung als solche.

Aber angenommen, es gibt tatsächlich ein valides Forschungsergebnis mit exakt diesem Resümee. Was besagt es? Das es so sein kann. Aber besagt es auch, dass es generell der Fall ist? Machen wir doch mal die historische Nagelprobe. Und fragen uns, was es mit der Fülle an ethnischen und kulturellen Schmelztiegeln auf sich hat, die uns die letzten 2500 Jahre beschert haben? Was war mit Rom, Alexandria, Jerusalem, Konstantinopel, Samarkand, Bagdad, Lemberg oder Rustschuk, der Geburtsstadt von Elias Canetti im heutigen Bulgarien, von der dieser Jahrzehnte später noch schwärmte?

„Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Es wird mir schwerlich gelingen, von der Farbigkeit dieser frühen Jahre in Rustschuk, eine Vorstellung zu geben. Die übrige Welt hieß dort: Europa! Europa begann dort – wo das türkische Reich einst geendet hatte."

Es waren alles Orte, in denen über Jahrhunderte eine große und, im historischen Weltmaßstab, sogar recht friedvolle „ethnische und kulturelle Diversität“ und Koexistenz geherrscht hat, dass einem die heutigen Zustände in Berlin, Offenbach oder Marxloh grau und uniform, aggressiv und rückständig erscheinen. Oder was ist, zum Beispiel, mit der außerordentlich großen ‚ethnischen Diversität’, die auch heute noch entlang der alten Seidenstraße herrscht? 

Sarrazin kleidet in seinen Texten Behauptungen gerne als unumstößliche Fakten und damit als Prämissen für seine Thesen. In der Logik können falsche Prämissen durchaus zu einer richtigen Konklusion führen, im realen Leben ist das eher selten. Als pragmatischer Volkswirt weiß er das natürlich. Weshalb man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass er den Spieß einfach umdreht und von der Betrachtung des realen Lebens ausgehend rückwirkend seine Prämissen formuliert. Und da seine Zustandsbeschreibungen ja durchaus um real existierende Probleme kreisen, erscheinen so die Prämissen, zumindest für  zahlreiche seiner Leser und Anhänger, als wahre Annahmen. Voilá!

Leider führt eine solche Vorgehensweise gerne zu einer geradezu klassisch populistischen Argumentationsstruktur: Ich behaupte irgendeinen Mumpitz. Und leite dann alles Weitere davon ab. Ein weiteres Beispiel gefällig?

Dieses Sentiment ist offenbar in der Evolution tief verwurzelt. Man sieht das daran, dass die Feindseligkeit zwischen ethnischen Gruppen, die durch die Umstände zum Zusammenleben gezwungen sind, umso höher ist, je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen."

Es fängt bei ihm, wieder mal, mit einer biologistischen Prämisse an, einer vermeintlich „in der Evolution tief verwurzelten“ Feindseligkeit bestimmter ethnischer Gruppen. Woher bezieht der Mann diese Weisheiten? Wird ihm gar nicht bewusst, dass er mit solchen unreflektiert in die Welt gesetzten Behauptungen einzig und allein völkische Stereotypen bedient, die begeistert aufgenommen und fürderhin von genau denen zitiert werden, mit denen er sich seiner Ansicht nach völlig zu Unrecht in einen populistischen Topf geworfen sieht?

Nach dieser biologistischen Einleitung vollzieht er mitten im Satz eine bemerkenswerte Volte und schwenkt argumentativ auf die historische Sprachwissenschaft um: Die Feindseligkeiten, so erklärt er im Duktus der völligen Gewissheit, sind umso größer, „je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen."

Faszinierend. Und hanebüchen. Nach dieser Logik hätte es im vorkolonialen Afrika, wo es bekanntermaßen prozentual nicht nur die mit Abstand meisten Sprachen und Idiome, sondern auch die im Stammbaum der menschlichen Sprachen am weitesten voneinander entfernt liegenden Sprachen gibt, praktisch keine Bevölkerung mehr geben dürfen. Und warum sich Buren und Briten dort gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben, dürfte dann auch ein Mysterium der Menschheitsgeschichte bleiben.

Bewegt er sich hier als Volkswirt noch auf fremdem Terrain, weshalb er vielleicht für solche Einlassungen bei dem einen oder anderen auf eine gewisse Nachsicht hoffen kann, kann die nächste nicht mehr als Lapsus durchgehen:

„Einwanderung ist nämlich wirtschaftlich nur dann positiv, wenn die Einwanderer im Durchschnitt qualifizierter sind als die aufnehmende Bevölkerung, anderenfalls verbraucht sie Wohlstand, statt ihn zu schaffen.“

So so. Dann handelte es sich also bei den rund 2,6 Millionen Arbeitsmigranten, die von 1956 bis 1973 nach Deutschland kamen und blieben, in der Regel um hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte. Oder will uns Sarrazin weismachen, dass die Arbeitsmigranten mehr Wohlstand verbraucht als geschaffen haben und deshalb die Einwanderung ökonomisch negativ war? Oder will er, der alte Sprachfuchs, etwa behaupten, dass es sich bei den Arbeitsmigranten de facto gar nicht um Einwanderer handelt, sondern nur um Personen mit zeitlich begrenztem Aufenthaltsstatus?

Ist das nun einfach alles nur hanebüchen, unredlich oder populistisch, was Sarrazin schreibt und Land auf, Land ab in unzähligen Vorträgen und Talkshows von sich gibt? Will er hetzen, Stimmung machen, Subversion betreiben? Oder ist er die gute, naive Seele, die ehrliche Haut, die doch nur das Beste für Deutschland will? Oder, jetzt wird’s richtig spannend, ist er ein ganz gerissener Profiteur, der faustisch mit den absurdesten Thesen auf die dramatischen Gegenwartsprobleme aufsetzt und dumpfe, archaische Urängste bedient, einzig um daraus belletristisch Kapital zu schlagen – und dabei gar nicht an einer ernsthaften Lösung interessiert ist, weil sich dann ja seine Bestseller nicht mehr wie geschnitten Brot verkaufen würden? Das wär’ doch mal eine Pointe.

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