Freitag, 6. Mai 2016


Vom Blockwart zum Blogwart


Blockwart“. Sagt Ihnen der Begriff noch etwas? Laut Wikipedia war er der Blockleiter der NSDAP, zuständig „für 40 bis 60 Haushalte (...) mit durchschnittlich rund 170 Personen“. Er hatte seine „arische Abstammung bis zum Jahre 1800 nachzuweisen“ und „war zu vorbildlichem Verhalten auch im Privatleben angehalten". https://de.wikipedia.org/wiki/Blockleiter#Bezeichnung_.E2.80.9EBlockwart.E2.80.9C

Seinen Aufgabenbereich beschrieb das Hauptschulungsamt der NSDAP wie folgt: „Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern. Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten.“  Dazu gehörte insbesondere, dass er in seinem unmittelbaren Umfeld für die unbedingte und kompromisslose Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik verantwortlich zeichnete. 

So hatte er unverzüglich „Judenfreunde“, also Volksschädlinge der übelsten Sorte, zu melden, listete jüdischen Besitz und jüdische Wohnungen auf und achtete mit heiligem Eifer darauf, dass alle Vorschriften, die für die jüdischen Untermenschen galten, von diesen auch aufs Genaueste befolgt wurden.

Eine zentrale Bedeutung hatte der Blockwart zudem bei der politischen Überwachung vor Ort. Ihm oblag ein wesentlicher Teil der politischen Beurteilung der in den ihm anvertrauten vier bis acht Blocks lebenden Personen. Auch „führte er eine normierte Haushaltskartei, notierte Unmutsäußerungen und das Verhalten bei Beflaggung, gab Leumundszeugnisse ab und war allgegenwärtiger Ansprechpartner für Denunziationen“. 

Der Blockwart, „ein allgegenwärtiges Instrument der Überwachung“. Von einer solch behördlich offiziell eingesetzten und quasi in staatstragender Funktion agierenden Truppe arischer „Treppenterrier“ sind wir Lichtjahre entfernt. Aber in unserem kleinen digitalen Dorf, da dräut, raunt und rumort es gewaltig. Wieder einmal. 

Das christliche Abendland und mit ihm die christlichen Werte sind in akuter Gefahr, heißt es in einschlägigen Blogs und Foren. Von einer „Völkerwanderung nach Europa“ und Flüchtlingsinvasionist die Rede, von einem „muslimischen Migrationstsunami“. 

Die Bürger umtreibt die Sorge, ob denn die Rettung von Menschen aus einem Kulturraum, der uns Christen und Mitteleuropäer traditionell verachtet oder gar hasst“, wirklich zu verantworten ist. Bringt uns das nicht einzig nur Unfrieden, Gewalt und Kosten? Was ist zum Beispiel mit dem islamischen Frauenbild? Geilen sich die maghrebinischen Grapscher nicht etwa an den sommerlich gekleideten deutschen Mädels so richtig auf? Sind unsere Kinder vor diesen levantinischen Ölaugen noch sicher? Und überhaupt: Was ist mit unserer Lebensqualität? 

Die Sorgen dieser Bürger sollen hier nicht klein, auch soll nicht alles schön geredet werden. Wir dürfen nicht die Augen vor den tatsächlich erfolgten Übergriffen auf Frauen und Mädchen verschließen. Vor Diebstählen, Missbrauch oder dem möglichen Einsickern islamistischer Terroristen auf den Flüchtlingsrouten. Aber das muss in aller Nüchternheit geschehen. Stattdessen werden wieder einmal archaisch-dumpfe Urängste vor dem Fremden, Anderen, Unbekannten bedient, wird an niedere Instinkte appelliert, das Fremde nicht Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden. Alle, die nicht zum ‚Wir’ gezählt werden, geraten unter Generalverdacht. Alte völkische Denkmuster werden da, wo Menschen nicht mehr nur sprachlich, sondern auch wortwörtlich ausgegrenzt werden, an die Oberfläche gespült.

Höchste Vorsicht ist geboten. Zentrale christliche Werte werden ausgehöhlt, deutschnational aufgeladen, demagogisch umgewidmet. Aus der objektiven Faktenlage ergibt sich keine hinreichende Erklärung dafür, warum subjektiv eine Gefahrenlage vorliegt. Die vermeintliche Überfremdung dient als Drohkulisse, bei der das imposante Bühnenbild einer Gefahr für abendländische Kultur und Hemisphäre gerade groß genug ist, um darin die als real empfundene und damit für den besorgten Bürger real existierende Angst zu betten. 

Die als unmittelbar und ganz persönlich empfundene Bedrohung jedes Einzelnen erfährt hier seine irrationale Überhöhung. Übersteigerung. Mystifizierung. Rationale Argumente ziehen nicht mehr. Darauf wies der SWR-Intendant Peter Boudgoust erst jüngst in einem Interview hin: "Menschen mit einer vorgefassten Meinung lassen sich fast nie von gegenteiligen Informationen überzeugen. Fakten dringen nicht mehr zu ihnen durch – und sie interessieren viele Menschen auch nicht mehr." 

Der Muslim von heute ist der Jud’ von morgen. Das lehrt uns die Geschichte. Die Kennzeichnung des Fremden ist eine Variable. Je nach Gemengelage wird sie mit der Gruppierung besetzt, die gerade opportun ist. Waren es gestern die ‚Judenfreunde’, sind es morgen die Verfasser von Zeilen wie diesen, diese Gutmenschen, Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter, die dann, wenn man schon mal dabei ist, flugs mit in Sippenhaft genommen werden.

Es ist wieder an der Zeit, dass simplifizierende Gegensätze gepredigt werden. So schafft man sich seine kleine heile Welt, seine Ordnung in solch unordentlichen Zeiten. Da weiß man, was man hat. Und woran man ist. Man bewegt sich zielsicher nur in solchen Kreisen, die die eigene, vorgefasste Meinung bestätigen – und mit jeder dieser Bestätigungen wächst der Glaube an die unerschütterliche, absolute Wahrheit und Wucht der eigenen Meinung:
Die eigene Wahrheit als die einzige Wahrheit. 

In solchen Momenten spürt man sie fast schon körperlich wieder wirken, diese schlichten Denk- und Entscheidungsstrukturen. Gut vs. böse. Wahrheit vs. Lüge. Recht vs. Unrecht. Positiv vs. negativ. Ein bemerkenswert gegenläufiges, rückwärtsgewandtes Phänomen im Zeitalter der digitalen Revolution übrigens, welches völkische Ideologien strukturell aufs Schönste mit dem salafistischen Doktrinärislam ebenso verbindet wie mit der „kreationistischen Internationalen“ (F.W.Graf), den Pfingstlern oder den Evangelicos in Nordamerika, letztere allesamt fundamentalistische Christentümer. 

Schlüssige Gegenargumente werden von Anhängern dieser konsequent hierarchisch und gruppendynamisch, also antiindividualistisch ausgerichteten Strömungen zunächst als Beweis völliger Naivität und Verblendung der ‚Anderen’, später dann als persönliche Beleidigungen und, zu unguter Letzt, als Bedrohung empfunden – für Glauben, Volk, Ethnie, Zukunft, Vater- und Abendland etc.pp.

Da, wo ich mich subjektiv bedroht fühle, drohe ich zum Opfer zu werden. Dem muss ich vorgreifen. Und in einem Akt vorauseilender Notwehr für Ordnung sorgen. Ein geradezu klassischer Argumentationsstereotyp: Ich vermute, dass ich geschlagen werde. Also schlage ich zuerst. Wobei völlig unerheblich ist, ob der andere mich tatsächlich hätte schlagen wollen. Hier ist das Opfer der eigentliche Täter, der Täter das wahre Opfer. Und alle Folgen haben die als die eigentlichen Täter entlarvten vermeintlichen Opfer zu verantworten.

Groucho Marx hat dieses an Paranoia grenzende Phänomen einmal in all seiner grotesken Absurdität persifliert: In der bitterbösen, satirischen Komödie Duck Soap“ (dt. ‚Die Marx Brothers im Krieg’, 1933) verkörpert er Rufus T. Firefly, den verrückten Diktator des Zwergstaates Freedonia, der dem Botschafter des Nachbarlandes eine schallende Ohrfeige verpasst und damit einen Krieg auslöst. Einfach deshalb, weil Firefly sich in den Gedanken hineinsteigert, dass diese Hyäne von Botschafter die Unverschämtheit besitzen wird, ihm bei einem Empfang den Handschlag zu verweigern, um ihn so vor allen Anwesenden lächerlich zu machen.

Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“ Dieses Phänomen haben die beiden amerikanischen Soziologen Dorothy Thomas und William Thomas 1928 beschrieben: Sehe ich in jemandem eine Bedrohung, ist er für mich eine Bedrohung. Subjektive Wahrnehmung und objektive Realität fallen auseinander. Ich reagiere auf etwas, was nicht der Fall ist. Und provoziere so die Konsequenzen, die ich prophezeit habe.

So etwas in der Art steht uns auch wieder bevor. Neuerdings patrouillieren diverse Selbsthilfegruppen besorgter Deutscher, alles gute und ehrenwerte Bürger, durch die Straßen. Gerne in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften, besonders im wilden Osten. Immer auf der Suche nach marodierenden Horden vorzugsweise muselmanischer Herkunft.

Auch in der digitalen Nachbarschaft geschieht dies nunmehr vermehrt. Dort, wo der Blockwart zum Blogwart wird, sehen es einige als ihre ureigenste, heilige Aufgabe an, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die Augen aufzuhalten. Aufzulisten. Zu überwachen. Zu protokollieren. „Unzensiert“ zu melden, was sich fremdländische Gestalten in diesem unseren Land so alles herausnehmen. Und diese Vorfälle sodann, ob Masseneinwanderung, Deutschlands tägliche ‚Einzelfälle’ und weitere ‚Kulturelle Bereicherungen’ “, für alle gut sichtbar ins Netz zu stellen.  
https://www.facebook.com/Multikulti-Watch-506207196208259/


Der Blogwart, „ein allgegenwärtiges Instrument der Überwachung“. Aber Obacht – nicht, dass sich jetzt alle, die diesem Befund im Wesentlichen zustimmen, in Sicherheit wähnen: Der Archetypus dieses guten Deutschen ist der Jedermann. Der steckt in jedem von uns. Also auch in Ihnen. Und, ich sag’s nur ungern, auch in mir.

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