Die Befremdlichkeit gegenläufiger
Zeitströmungen
Die Zeichen stehen
auf Aufbruch. Ein Aufbruch in neue Zeiten. Auch wenn es reichlich Stimmen gibt,
die vor Missbrauch und Vereinnahmung, vor Verlust jeglicher Privatheit und informationellen
Selbstbestimmung, vor totaler Überwachung, Majority Reports und der Datensammelwut staatlicher
Institutionen und GAFA – Google, Apple, Facebook und Amazon – warnen:
Wir befinden
uns heute an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution. Die
Digitale
Transformation erfasst alle Bereiche der Wirtschaft. Big Data, immense
Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen, werden gesammelt, zu Smart Data
verknüpft und verarbeitet. Smart Services entstehen. Ebenso smarte Fabriken, in
denen Produkte ihre Herstellung weitgehend selbst steuern. Mit dem Verbraucher
kommunizieren. Und detaillierte Herstellungsnachweise einschließlich vollständiger
Umweltbilanz liefern.
Es
herrscht eine fast schon euphorische Begeisterung für die Möglichkeiten, die
sich uns dabei eröffnen. Die Digitalisierung
wird unseren Lebensalltag, unsere Gesellschaft, unsere Arbeits-, Denk- und
Verhaltensstrukturen unweigerlich und radikal verändern. Angesichts dieser verwirrend schnellen
Entwicklung, die einen fast atemlos macht und einem beständig das Gefühl
vermittelt, zu spät zu kommen, weiß zur Zeit noch niemand so recht, wie es
ausgehen wird: „Schöne neue Welt“
oder schöne neue Welt?
Eine
magische Anziehungskraft geht von ihr aus, der digitale Hype hat geradezu massensuggestives
Potenzial.
Dabei greift vielerorts eine
unreflektierte, unkritische Begeisterung für das jeweils Neue und Nächste um
sich, die bei einigen Jüngern des Silicon Valley fast schon esoterische Züge
einer zukunftshörigen Sekte annimmt, bestimmt von den Hohepriestern des
digitalen Zeitalters. Umgekehrt lässt sie das jeweils Letzte oftmals
als das ewig Gestrige erscheinen. Das Vergangene ist vergessen, was allein
zählt, ist das Kommende. Das weckt ungute Erinnerungen an das „Futuristische Manifest“. Filippo
Marinetti proklamierte 1909 darin seinen unerschütterlichen Glauben an das
Morgen, gänzlich reduziert auf den technologischen Fortschritt und seine
grenzenlosen Möglichkeiten.
Ein solcher Glaube ist blind gegenüber allem
anderen, völlig immun gegen kritische Stimmen. Er schweißt die Gläubigen fest zusammen,
lässt im Digital Valley eine weltweite Gemeinschaft entstehen, die ihre eigenen
Rituale, Symbole, Kulte, Mythen erschafft. „Der
ganze soziale Körper wird von einer einzigen Bewegung belebt.“ So der
Anthropologe Marcel Mauss. Und am Ende „gibt
(es) keine Individuen mehr.“ Nur noch eine Masse, die ihre „mythisch-magischen Weltbilder“ (Renè
Freund) als Wirklichkeit erlebt.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen stellt
man derzeit mit einigem Befremden eine ebenso weltumspannende gegenläufige
Bewegung fest. Es ist keine „Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen“, die für Bloch eine der wesentlichen Kennzeichen der
Moderne war. Denn hier zeigt sich nicht eine bloß reaktionäre, rückständige Haltung, hier zeigt sich
eine explizit und aggressiv rückwärts
orientierte Haltung. Eine, die uns in allen Bereichen, auf allen Ebenen,
koste es, was es wolle, in die ehedem guten, alten Zeiten zurückkatapultieren
will.
Die expansiven Kräfte des erzkonservativen,
aggressiv-missionarisch agierenden Wahhabismus, einer ursprünglich
sektiererischen Richtung des Islam, der seit dem 18. Jahrhundert eine unheilvolle,
blutsbrüderische Liaison mit der Familie der Saud eingegangen ist. Die, vom
Westen diplomatisch und militärisch nach allen Regeln der Kunst gefördert, ihrerseits
diese archaisch anmutende Form des Islam nach allen Regeln der Kunst fördert.
Eine derart rückwärts orientierte Ausprägung einer
nach Deutungshoheit strebenden Interpretation des Islam lässt sich strukturell aber
auch anderenorts feststellen. So zeigt der Religionswissenschaftler F. W. Graf,
dass sich dergleichen in den zahlreichen, nicht minder aggressiv expandierenden
Christentümern abspielt. Und das durchaus nicht im Verborgenen, Kleinen,
Randständigen. Sondern im Weltmaßstab, dennoch von uns kaum zur Kenntnis
genommen.
Da sind die asketischen Pfingstchristen, die
besonders in Brasilien, aber auch in Afrika mit ihrer
protestantisch-kapitalistischen Ethik erfolgreich missionieren und unter
massivem Einfluss konservativer religiöser
Gruppen aus den USA stehen. Die nicht
minder vom Heiligen Geist beseelten Evangelikalen, die in Deutschland zumindest
schon einmal eine Familienministerin gestellt haben. Die Evangelicos in
Nordamerika. Die kreationistische Internationale, die der Evolutionsbiologie
ein ‚Intelligent Design’, kurz ID genanntes, allein von Gott inspiriertes
Konzept entgegenhält.
Auch ist die zunehmende
Kriminalisierung der Homosexualität nicht allein ein russisches Phänomen. Oder
ein radikalislamisches. Es steht auch für die Weltanschauung der
Pfingstchristler, so des ausgewiesenen Holocaust-Leugners Scott Lively,
Präsident der "Abiding Truth Ministries" in Kalifornien. Seit 2009
ist er „aktiv an der ugandischen Kampagne
gegen Schwule und Lesben beteiligt, greift in die Gesetzgebung ein und will die
Todesstrafe für Homosexuelle verankern“. Weiter heißt es 2013 in einem
Beitrag des Deutschlandfunks: „In Uganda,
Kenia und anderen Ländern fürchten Homosexuelle mittlerweile um ihr Leben,
etliche wurden bereits ermordet“. http://www.deutschlandfunk.de/beseelt-vom-heiligen-geist.724.de.html?dram:article_id=246998
So ist nicht allein das verstörende
Islamverständnis der IS und Al-Kaida in manchen Weltgegenden zu einer tödlichen
Bedrohung geworden, sondern auch das nicht minder verstörende ethische Verständnis
mancher Christentümer.
Selbst das Judentum ist vor solch
extremen Formen nicht gefeit. Hier sind es radikalreligiöse, ultraorthodoxe
Gruppierungen, die Charedim, die einen ebenso absoluten Geltungsanspruch erheben
und entsprechende Deutungshoheit selbst in Fragen des täglichen Lebens beanspruchen
wie ihre strukturellen Vettern auf islamistischer oder christlicher Seite.
Als wäre das nicht schon genug der
Rückschrittlichkeit, finden wir sie derzeit weltweit nicht nur im religiösen,
sondern vermehrt auch im politischen Kontext. Die Türkei steht vor der Rückkehr
zu einem streng islamisch orientierten, osmanischen Despotismus, der krakengleich
selbst bis nach Deutschland übergreift. Die herrschende Regierung in Polen
sehnt sich einen erzkatholisch aufgestellten Nationalstaat reinster ethnischer
Prägung herbei. Russland feiert sich selbst betont martialisch in einem
heroisch-patriotisch aufgeladenen Erinnerungskult. Ungarn wird sukzessive orbanisiert,
Österreich läuft in Scharen zur rechtspopulistischen FPÖ, Frankreich zur
rechtsextremen Front National über. Und auf den Philippinen wurde just Roberto
Duterte zum Präsidenten gewählt, der ganz ungeniert damit droht, ein Todesschwadron
aufzustellen und mit diktatorischen Mitteln regieren zu wollen.
Die Anhänger der AfD „nehmen eine überlieferte Lebensweise in Anspruch“, so Karen Krüger
in einem Beitrag für die F.A.S. „Genauso machen
es radikale Islamisten, gegen die ja die AfD nach eigenem Bekunden zu Feld
ziehen will.“ Reaktionäre, nationalistische Bewegungen allenthalben in
Europa, die sich von der EU wegbewegen hin zu einer ausgeprägt kleinbürgerlichen
Nationalstaatlichkeit. Chauvinistische Reflexe und patriotische Parolen allüberall.
Und selbst das Tabu der Unantastbarkeit der Grenzen ist heute obsolet. Was
Putin im Großen vorexerzierte beeilte sich jetzt der Hofer Norbert, seines
Zeichens FPÖ-Präsidentschaftskandidat, im Kleinen nachzukläffen, als er einer
Wiedervereinigung Tirols das Wort redete.
Selbst Pep Guardiola scheint sich mehr für die
Unabhängigkeit Kataloniens einzusetzen als für die Belange seines jeweiligen
Arbeitsgebers. Dass Schottland im Fall eines Brexit bereit wäre, aus dem
Vereinigten Königreich auszutreten, um in der EU zu bleiben, mutet da fast
schon wie ein anachronistisches Paradox an. Eine historische Anekdote der
skurrilen Art, kollidieren hier doch gleich zwei rückwärtsgewandte Strömungen
miteinander.
Eugene Joseph
Dionne, Kolumnist der renommierten ‚Washington Post’, konstatierte in seinem
Buch „Why The Right Went Wrong“, dass
die Tea Party ein Seniorenclub sei, der eine Rückkehr zu den gesellschaftlichen,
sozialen und kulturellen Zuständen der 50er herbeisehnt. Wo alles noch seine
Ordnung hatte. Wo jeder wusste, wo seine Stellung innerhalb der Gesellschaft
war. Wo ‚weiß’ oben und ‚schwarz’ unten war. Wo ‚hetero’ gut und ‚homo’
schlecht war. Wo ‚America first’ und der Rest der Welt zweite Wahl war. Wen
wundert’s da noch, dass Donald Trump erst die Grand Old Party im Sturm
eroberte, dann God’s Own Country folgen lassen will und morgen am liebsten die
ganze Welt?
Alle, so verschieden
sie auch sein mögen, eint doch der Gedanke, den Karen Krüger für AfD und
Islamisten gleichermaßen konstatierte: Sie glauben, „dass es Rückwärtsgewandtheit braucht, um vorwärtszugehen“. Ihr
Idealbild ist der Einzelne, der in der Masse, im sozialen Körper aufgeht. Ein
kollektiver Akt der Selbstaufgabe, den der Anthropologe Marcel Mauss bereits
1903 beschrieben hat.
„Wir sind das Volk“. Diese völkische
Beschwörungsformel der Deutschtümler ist so gesehen letztlich, wie das „America first“ eines Donald Trump,
nichts anderes als ein Rückgriff auf stammesgeschichtliche Riten, „die das Gewünschte heraufbeschwören,
statuieren oder befehlen“ soll. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski sah darin
einen der Ursprünge der Magie. Die Auserwählten werden in einem quasi okkulten
Akt Teil einer Solidargemeinschaft – und alle anderen werden demonstrativ
ausgrenzt.
Damit einher geht
ein befriedigendes Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung in
orientierungsloser Zeit. Es immunisiert zuverlässig gegen alle rationalen
Argumente. So wird eine objektiv
irreale Bedrohung subjektiv als reale Bedrohung empfunden, die subjektive Wahrnehmung wird zur objektiven
Realität.
In dem Momentum des
Magischen liegt eine nicht minder befremdliche Schnittmenge dieser so
befremdlich gegenläufigen Zeitströmungen, der Fortschrittsgläubigkeit und der „Revolution des bewussten Rückschritts“ (Renè Freund). Der Sehnsucht nach einer klaren Ordnung,
die eines eigenen Standpunktes nicht mehr bedarf. Nur
eines Idols. Abgotts. Führers.
Hier Big Data, da
Big Daddy.
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