Konformismus und Totalitarismus
Freiheit, die Unfreiheit bedeutet –
Warum Günther Anders aktueller denn je ist
Freiheit, die Unfreiheit bedeutet –
Warum Günther Anders aktueller denn je ist
Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Günther
Anders hielt 1958 vor der Lessing-Gesellschaft Hannover einen Vortrag, der in den
euphorisierten Jahren des Wirtschaftswunders in seiner gegenläufigen
Grundstimmung befremdlicher kaum sein konnte. In diesem Vortrag – Akustische Nacktheit, später unter dem
Titel Die Antiquiertheit der Privatheit
veröffentlicht (Anders 2013) – beschreibt
er eine Entwicklung, deren furioses Finale wir derzeit beobachten können: Die
Selbst-Aufgabe des modernen Menschen, seine konformistisch geprägte
Schamlosigkeit, die Umwertung moralischer Werte, die Dialektik der Unfreiheit
bedeutenden Freiheit, der fast widerspruchslos akzeptierte sanfte
Totalitarismus privatwirtschaftlicher Mächte, an deren digitaler Leine wir
hängen.
1.
Über die Konsequenzen, die der Aufstieg der
Nationalsozialisten für ihn als Juden haben würde, machte sich Günther Anders,
im Gegensatz zu vielen anderen seiner Zeitgenossen, keinerlei Illusionen. Er
erwartete das Unerwartete. Gleich nach dem Reichstagsbrand 1933 emigrierte er
deshalb nach Paris, wo er mehr schlecht als recht, leidlich unterstützt von Hannah
Arendt, mit der er zu dieser Zeit verheiratet war, sein Dasein fristete. Die
Angst vor einem heraufziehenden neuen Weltkrieg trieb Anders, der in seiner
Pariser Zeit lediglich einen Text, Pathologie de la liberté (Pathologie der
Freiheit), publizieren konnte, 1936 weiter
in die Emigration, dieses Mal in die USA. Dieser Text war
aber, so Traugott König, von einiger philosophiehistorischer Bedeutung, hatte
er doch maßgeblichen Einfluss auf Jean-Paul Sartre und die Entstehung des
Existentialismus,
Das Amerika, das ihn erwartete, war ein Amerika,
das sich bereits damals – Ende der 30er, Anfang der 40er – zu eben jener Medienlandschaft
zu entwickeln begann, die wir in Europa in dieser Ausprägung erst viele
Jahrzehnte bekommen sollten. In diesem Amerika wurden die Menschen konsequent zu
Zuhörern und Zuschauern erzogen, wurde ihnen die Außenwelt medial durch Radio
und Fernsehen in ihre Privatsphäre, in ihre intimsten Bereiche geschleust.
Dadurch begegnete ihnen die Welt nicht mehr als unmittelbar selbst erfahrene Welt
– sie begegnete ihnen zunehmend als eine mittelbar erlebte Welt, als medial
vermitteltes „Welt-Phantom“.
Waren es zunächst die Nachrichten, die ihnen die
Welt ins Haus holten, so wurden die amerikanischen Zuschauer bereits in den
50er Jahre von Reality Shows und Real Life Serien überschwemmt. Ein Massenpublikum
konnte nunmehr schamlos und unbestraft in die Welt anderer eindringen, ihm wurde
ein voyeuristischer Blick in fremde Wohn- und Schlafzimmer gewährt, deren
Bewohner sich, vice versa, dem Voyeur gegenüber exhibitionistisch gerierten und
dabei zum Konsummittel der Konsumenten degenerierten: Durch eine solch
konsumorientierte mediale Vermittlung wurde für die Amerikaner schon seinerzeit
die Warenwelt sukzessive zur wahren Welt.
Ob nun freiwillig oder geködert: Die Konsummittel,
die Begafften, Abgehörten, lieferten sich aus, gaben ihre Intimsphäre preis.
Die Konsumenten, die Gaffer, Zu- und Abhörer, wurden beliefert. In einer derart
arrangierten Wirklichkeit wurde der Betrachter zum unverschämten Voyeur, der nur
auf die nächsten schamlosen Entblößungen der seinem lüsternen Blick
ausgelieferten Opfer wartete, sich an dessen privatester Privatheit, ja an ihm selbst
weidete: Ich konsumiere den anderen damit, so Anders, in einer medial
vermittelten Form des Kannibalismus.
2.
In diesem Kontext wussten die derart Konsumierten
aber zumindest, dass sie Konsummittel waren und dem Zuschauer zum Fraß
vorgeworfen wurden resp. sich ihm zum Fraß vorwarfen. An anderer Stelle jedoch
ereignete sich dieser kannibalische Akt unbemerkt, da waren sie ahnungslos
Ausgelieferte. Dabei handelte
es sich, so Anders 1958, um die akustischen Lauschangriffe, die durch moderne
Abhöreinrichtungen erst möglich gemacht wurden (und die, zumindest in den USA,
für jeden jederzeit käuflich zu erwerben waren). Auch wenn dieser Befund heute,
im digital transformierten Zeitalter gigantischer Datenspeicherung, fast schon putzig
anmuten mag: Er beschreibt die strukturelle Blaupause für alle noch kommenden
Ein- und Übergriffe in unsere Privatheit.
Wer unser Telefone überwacht, dringt, ohne dass
wir davon erfahren oder es erlauben, in unserer Privatsphäre ein. Dies erfüllt strukturell
den Tatbestand des Hausfriedensbruchs – eines Hausfriedensbruchs jedoch, bei
dem physisch der Hausfrieden nicht gebrochen wurde: Der Täter, Einbrecher, Dieb
ist nur virtuell präsent. Nichts ist zerstört, zerbrochen, in Unordnung
gebracht. Aber wir sind, gerade weil wir völlig sorglos und nichtsahnend sind, in
diesem Moment dem Lauschangriff schutzlos ausgeliefert. Was aber, wenn ich zwar
nichts von dem konkreten Angriff, aber um die potentielle Gefahr weiß, dass ich
überwachbar, abhörbar bin und jederzeit ein solcher Angriff erfolgen kann? Das
wird mich nicht kalt lassen, mein Wissen darum wird rückbezügliche Auswirkungen
auf mein Verhalten zeitigen. Ich modifiziere, auch ohne dass ich es mir bewusst
mache, ganz automatisch mein Verhalten. Authentisches Verhalten mutiert so zu
gestelltem, gekünsteltem, reproduziertem Verhalten.
Die Eindringlinge, die aus einer mir unbekannten,
verborgenen Richtung kommen und sich von mir unentdeckt in meine Privatheit schleichen,
sind da und nicht da. Sie sind, und dies ist neu in der Menschheitsgeschichte,
an zwei Orten gleichzeitig: virtuell bei mir, physisch jedoch vor ihren
Überwachungsgeräten hockend (ein elend langweiliger Job, den heute die
digitalen Speichermedien und Algorithmen klaglos, mit größter Präzision und
Zuverlässigkeit erledigen). Dem schnöden akustischen
Hausfriedensbruch der 50er Jahre, der sich zumeist noch auf einen recht klar
umgrenzten häuslichen Raum der Privatheit bezog, steht heute die totale
digitale Entgrenzung der Privatheit gegenüber, einer Entgrenzung, die keinen privaten
Raum mehr kennt: Durch die Allgegenwärtigkeit der Computer, insbesondere der
mobilen Endgeräte, durch die technische Möglichkeit externen Zugriffs, durch
GPS und digitale Spurensicherung qua Betriebssysteme wie Googles Android, das
2016 einen weltweiten Marktanteil von 87,5% hatte, sind wir potentiell immer
und überall erreichbar. Greifbar. Dem Zugriff ausgesetzt. Zumeist ohne dass es uns bewusst ist. Schlimmer noch:
oft genug ohne dass es uns interessiert – wir haben uns daran gewöhnt, nehmen
es gleichgültig als zwangsläufige Begleiterscheinung der für uns damit verbundenen
Vorzüge und Freiheiten hin.
3.
Damals wie heute werden keine physischen Objekte entwendet. Es fehlt faktisch nichts nach diesem virtuellen Hausfriedensbruch:
Es werden ja keine Dinge gestohlen, nur Daten. Abbilder. Geräusche. Worte. Und
weil das so ist, gibt es auch kein Unrechtsbewusstsein. Physisch bin ich weder
irgendwo eingedrungen noch habe ich etwas entwendet. Ergo kann ich das, was ich
erfahren und aufgezeichnet habe, mit Fug und Recht als mein Eigentum betrachten
und es entsprechend behandeln.
So denken und handeln alle. Nicht nur Kriminelle.
Totalitäre Staaten. NSA. Oder GAFA – Google, Apple, Facebook, Amazon. Auch wir
selbst. Wir alle machen immer und überall Fotos (seriöse Schätzungen gehen
davon aus, dass 2017 weltweit 1.000.000.000.000 digitale Aufnahmen gemacht
werden – 1 Billionen), zeichnen auf, lassen Bilder und Äußerungen anderer
mitgehen – es ist für uns selbstverständlicher Normalfall geworden, allerdings
einer mit hohem Suchtpotential, leben wir doch im Zeitalter der
Ikonokleptomanie, der Selfiemania und Instagramisierung, der kommerzialisierten
Blogger und Influencer.
Für uns ist dieser Diebstahl kein Eigentumsdelikt. Wir belassen ja alles schön brav an seinem Ort, lassen physisch nichts in unsere Taschen wandern. Wer abhört oder fotografiert, nimmt, so konstatierte bereits damals Günther Anders, die einmalige Chance wahr, „stehlend nicht zu stehlen“. Auf dieses ‚nicht’ berufen wir uns alle scheinheilig. Alles bleibt, wie es war, es wird dem „photographierten Girl (...) seine Jungfernschaft nicht geraubt“. Was dazu führt, dass Stehlende und Bestohlene in gewisser Weise ahnungslos bleiben: Es scheint mir ja nichts zu fehlen wie auch der andere nichts genommen zu haben scheint – „das Fehlen fehlt“. Wir können als Dieb unsere Hände immer in Unschuld waschen: Wo nichts fehlt, wurde nichts gestohlen. Zumal ich physisch nie am eigentlichen Ort des Geschehens war: Ich war immer anderswo, lat. alibi.
Für uns ist dieser Diebstahl kein Eigentumsdelikt. Wir belassen ja alles schön brav an seinem Ort, lassen physisch nichts in unsere Taschen wandern. Wer abhört oder fotografiert, nimmt, so konstatierte bereits damals Günther Anders, die einmalige Chance wahr, „stehlend nicht zu stehlen“. Auf dieses ‚nicht’ berufen wir uns alle scheinheilig. Alles bleibt, wie es war, es wird dem „photographierten Girl (...) seine Jungfernschaft nicht geraubt“. Was dazu führt, dass Stehlende und Bestohlene in gewisser Weise ahnungslos bleiben: Es scheint mir ja nichts zu fehlen wie auch der andere nichts genommen zu haben scheint – „das Fehlen fehlt“. Wir können als Dieb unsere Hände immer in Unschuld waschen: Wo nichts fehlt, wurde nichts gestohlen. Zumal ich physisch nie am eigentlichen Ort des Geschehens war: Ich war immer anderswo, lat. alibi.
Mein Alibi: Ich, der Dieb, bin anderswo als mein
Opfer: „Von einem Täter, einer Tat (...)
einer Schuld, von Ursache für Scham oder Reue scheint überhaupt keine Rede sein
zu können.“ Da, wo potentiell „alles,
was er (: der Einzelne) tut und was
in ihm vorgeht, dem Auge (: oder Ohr)
der Macht ausgeliefert“ ist, liegt nach Anders eine Form des Totalitarismus
vor. Dieser wurde von ihm damals noch als ein politischer gedacht, aber da hat
ihn die Entwicklung längst überholt: Heute stellt sich der Totalitarismus auch
und vor allem als ein privatwirtschaftlicher dar – man denke nur an die astronomischen Datenmengen, die allein Google sekündlich weltweit
von den einzelnen Usern abgreift, speichert und, algorithmisch bearbeitet, ökonomisch
nutzt. Datenmengen, die auch Amazon anhäuft. Oder Facebook. Deren Godfather
gerade erst im Januar 2017 sein gesellschaftspolitisches Manifest verkündet
hat: Einer der größten Datendiebe unserer Zeit, der mit dem kontinuierlichem Raub
maßgeblich dazu beiträgt, dass die Privatheit des Einzelnen, für ihn perfider
Weise zumeist unbemerkt, atomisiert wird – dieser geriert sich als
Heilsbotschafter und stellt sein digitales Projekt als weltumspannende Maßnahme
zur allseitigen Beglückung, zur Demokratisierung, Humanisierung und
Egalisierung der Menschheit dar. Soviel Chuzpe muss man erst einmal haben. Chapeau!
Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt: In einer
Gesellschaft, in der eine Mehrheit der Menschen bereit ist, den Vorzügen dieser
Medien, Mechanismen und Geräte unkritisch den Vorzug vor einer reflektierten
Auseinandersetzung und kritischen Distanzierung zu geben, da ist diese auch bereit
anzunehmen, dass es sich bei der Auslieferung an die digitalen Machthaber, die eine
Auslieferung des Ich und Auflösung der Privatheit bedeutet, nicht um ein individuelles
wie gesellschaftliches Desaster, sondern um den lebensweltlichen Normalzustand handelt.
4.
Geräte zur Aus- und Belieferung der Menschen sind
nie „moralisch neutral“. Ihnen wohnt
immer schon ein spezifischer Gebrauch inne, von dem wir uns im Gebrauch der
Geräte nicht lösen können. Wir sind den Geräten und ihren inhärenten
Intentionen gegenüber nicht frei: „Jedes
Gerät (spielt) durch die Tatsache seiner speziellen Arbeitsleistung immer schon
eine präjudizierende Rolle“, es definiert ein bestimmtes Verhältnis
zwischen uns, den Anderen und den Dingen: „Jedes
ist seine Verwendung.“ So stellen sich TV und Radio als Belieferungsgeräte
dar, bei der der Konsum einer Phantomwelt anstelle wirklicher Welterfahrung
tritt, und Fotokameras und Abhörgeräte, die wir heute maximal um Handy, PC,
Laptop, Tablet, Smart-Home, Smart-TV, Fitnessarmbänder et all. erweitert haben, als
Auslieferungsgeräte: In dem Augenblick, wo der Mensch grundsätzlich und überall
kontrollierbar ist, ist er auslieferbar. Damit leben wir prinzipiell in einem
Modus der Unfreiheit, der uns nicht zuletzt durch das Versprechen maximaler Mobilität
und Erreichbarkeit als Freiheit verkauft wird.
„Abhörgeräte
(sind) ipso facto ihrer Verwendung (nach) totalitär.“ Denn sie sind strukturell darauf ausgerichtet, die
Individuation zu eliminieren: Der Mensch, der „grundsätzlich ein discretum, etwas Vereinzeltes“ ist, wird eben dieser
Möglichkeit zur Vereinzelung, seiner Privatheit, beraubt. Da unsere heutige
Geräte-Generation, all die Handys, Laptops, Tablets, Smart-Watches eo ipso auch
Abhörgeräte sind (man denke nur an My
Friend Cayla, dies smarte Püppchen für die Kleinsten, das de facto eine
perfide Spionin ist), leben wir in einem Zustand des ‚sanften Totalitarismus’. Gegen den wir uns jedoch nicht nur nicht auflehnen,
sondern den wir auch noch nach Kräften fördern, fordern, als Freiheit
begreifen.
Das Bestreben einer jeden totalitären Macht, sei
es ein staatlicher, de facto krimineller oder auch privatwirtschaftlich
organisierter Apparat, ist es, die Individuation, die „Unerreichbarkeit der Teile durch das Ganze“,Anders nennt sie „Binnen-Transzendenz“, final auszuschalten. Die Macht strebt eine „monolithische Gesellschaft“ an, eine
feste, in sich geschlossene Gruppe, die keine Diskretheit, keine Initimität,
keine Privatheit, keine Unterscheidung von
öffentlich und privat mehr kennt. Es ist dies eine Gesellschaft, die keinen
Wert auf den Wert des Individuums legt und stattdessen das konformistische ‚Ich’
als Ideal propagiert – denn ein ‚Ich’, das einheitlich strukturiert und entindividuiert
ist, fügt sich klaglos ein in die amorphe Masse, in das Kollektiv, das identitätsstiftende
‚Wir’.
Dieses sich im Einzelnen nur notdürftig als Ich
verkleidete Wir steht identitär geschlossen und kopfschüttelnd dem ihm Anderen,
Fremden gegenüber – den Non-Konformisten, Diskreten, Intimen, Individuierten. Es
erfolgt, ganz klassisch, über die Identifizierung mit dem geschlossenen Ganzen,
der Masse, dessen Sicht der Dinge die einzige gültige Sichtweise ist, eine
Identitätsstiftung für das einsame, orientierungslose ‚Ich’, das es satt ist,
sich die Mühe zu machen, sich zu orientieren: Es ergeht sich lieber in der
Komfortzone von Konformität und Uniformität. Entsagt damit in letzter Konsequenz
der Errungenschaft der Zivilisation. Und begibt sich wieder auf den Weg in die
Barbarei.
Das Ich jedoch, das auf sein Selbst-Sein beharrt,
stellt sich der totalitären Macht und den vielen mit ihr sympathisierenden Jüngern,
namentlich den Digital Natives, als Anachronismus, als Defekt oder gar als
Skandalon dar: „Die Individuation (wird)
also als eine Versündigung gegen ihren monolithischen Anspruch“ verstanden.
Das Ich hingegen, das sich, wie ein Großteil der Digital Natives, ganz den
gigantischen Möglichkeiten des technischen Fortschritts wie weiland die
Futuristen verschrieben hat, sieht sich selber als wahrer Individualist inmitten
seiner Kombattanten, vermeintlich anarchisch zusammengeschlossen in der
Community, der weltumspannenden Gemeinschaft Gleichgesinnter.
Darin geht es auf. Geht konform. Geht in sich,
zieht sich in seine digitale Welt zurück, die ihm längst zur realen geworden
ist: Cocooning wird zu seinem Lebensprinzip. Ich igle mich in meinen vier
Wänden ein. Ordere die Pizza online. Kommuniziere mit Vorliebe in der
Filterblase meiner Community, erlebe die Außenwelt vornehmlich medial
vermittelt, die so, von mir unbemerkt, zur Phantomwelt wird. Was in der realen
Welt passiert, geht mich zunehmend weniger an; es ist nicht mehr meine Welt.
Und was mich nichts angeht, dafür trage ich auch keine Verantwortung.
Es ist einer der Widersprüche unserer Zeit: Da
spinnen sich die digitalen Enthusiasten auf der einen Seite mit ihresgleichen
in der Wohlfühloase ihrer für sie real gewordenen virtuellen Privatsphäre ein –
haben aber auf der anderen Seite kein Problem mit jenem digitalen
Hausfriedensbruch, der durch die modernen mobilen Endgeräte jederzeit möglich
ist. Haben kein Problem mit der Option permanenter Überwachung und lückenloser
Speicherung aller Vorgänge. Und nicht mit der ständigen Erreichbarkeit und
Greifbarkeit auch dank des möglichen akustischen wie optischen Zugriffs über
externe Aktivierung der integrierten Mikrofon- und Kamerafunktion, ein Indiz des
sanften Totalitarismus, der zur völligen Aufgabe der Privatheit und damit der
individuellen Freiheit führt. Kein Problem mit nichts, nirgends (Ich höre sie
schon sagen, was Günther Anders sie schon im Amerika der 50er Jahre hat sagen
hören: „But I have nothing to hide“, ich
hab’ doch nichts zu verbergen!).
5.
Chillen hieß einst schlicht Nichtstun. Die Ruhe
genießen. Allein sein. Heute heißt Chillen Chatten. Permanent online, also
verbunden, erreichbar, greifbar sein. Dieses Nichtstun ist das Gegenteil von Nichtstun.
Sein Alleinsein ist das Dabeisein. Überall sein. Am besten gleichzeitig. Ständig
präsent sein. Konsumieren. Nie den Kontakt verlieren, sonst ist man verloren,
einsam, allein (eine persönliche Episode, die diese Verhaltensmodifikation
veranschaulicht: In der Kinopause des, wie passend, dystopischen Blockbusters
‚Blade Runner 2049’ zückten ausnahmslos alle Zuschauer umgehend ihr Handy, um
zu kontrollieren, ob nicht irgendwelche Nachrichten für sie eingegangen sind – auch ich...).
Weil die digitale Generation die ursprüngliche Form
der Individuation nicht mehr aushält, nimmt sie billigend in Kauf, was gar
nicht mehr so heimlich hinter ihrem Rücken geschieht: Abhören, Ausspähen,
Aufzeichnen, Speichern. Ja: Sie wendet sogar das Blatt. Und wendet sich mitleidig
gegen die in ihren Augen Ewiggestrigen, den Zukunftsverweigern und
Technikskeptikern, die diese Schattenseite der permanenten digitalen
Erreichbarkeit als jene Unfreiheit begreifen, die sich hinter der Freiheit verbirgt,
die uns die technischen Möglichkeiten bieten. Und die, um diese Unfreiheit ein
Stück weit zu begrenzen, ein Recht auf Vergessenwerden einfordern.
Dafür haben viele aber absolut kein Verständnis.
In vorderster Front: Google-Chef Eric Schmidt. Seine Replik zum Urteil des
Europäischen Gerichtshofs 2014, das seinerzeit das Recht auf Vergessenwerden, also
das Recht auf Löschung der Daten, bestätigte, hieß schlicht: Dies steht unserem
„Recht auf Wissen“ entgegen. Denn ich
entziehe mich als Individuum der sanften totalitären Macht durch Rückzug in die
Anonymität der Privatheit. Damit entziehe ich ihr das Wissen über mich, das sie
zu wissen beansprucht. Dieses Wissen ist aber nicht etwa Etwas-Wissen, sondern
Alles-Wissen: die völlige Transparenz als Gegenentwurf zur Anonymität. Der
Entzug von Wissen durch Rückzug in die Privatheit ist in den Augen der Macht
illegitim: Ich breche nach ihrem Verständnis ihr Recht auf Wissen. Ergo ist
dieser Entzug Diebstahl. Oder wie es Dave Eggers in seinem Roman „The Circle“
als Credo des imaginären Internetkonzerns, der seine Kunden mit einer einzigen Internetidentität
und kompletten Transparenz ausstattet, prägnant formuliert: ‚Privatheit ist Diebstahl’.
Vergessen werden heißt
Anonymität zurückgewinnen. Heißt eine gegen den Zugriff von außen geschützte
Sphäre des Nicht-Wissens, der Privatheit zu wahren und zu schützen. Eine
Sphäre, in der ich mich frei bewegen kann, ohne Angst vor Überwachung haben zu
müssen. Vollständiges Wissen einzufordern hingegen heißt Eliminierung eben
dieser Anonymität und Etablierung vollständiger Transparenz. Günther Anders sah
diese perfide Argumentation der totalitären Macht voraus: Sie erträgt keine
Individuation, ihr Ideal ist das kollektiv definierte, konforme Wesen. Der Einzelne unterschlägt aber nun allein schon
durch die Tatsache seines lebensweltlichen Daseins als Individuum, lat. in-dividuus, also als unteilbares,
unzertrennliches Ich der totalitären Macht den Betrag, den es ihr schuldet. Zu
allem Überfluss sind einzelne von ihnen auch noch bestrebt, sich der Macht
durch Rückzug in die reale Privatheit aktiv zu entziehen. Das gesamte Bestreben
der totalitären Macht läuft deshalb darauf hinaus, ‚indiskret’ und ‚unverschämt’
zu sein, und alles tut, ihre Wissenslücken zu schließen, um so jegliche
Individuation zu unterbinden.
Umgekehrt soll das Individuum seinerseits der
totalitären Macht entgegenkommen, soll ‚schamlos’
und ‚indiskret’ werden und die a
priori bestehende Schuld seines Daseins (das ist die moderne adamitische
Urschuld, die Erbsünde unserer Zeit), seiner naturgegebenen Individuation „einzuräumen“: Das Individuum liefert
sich der Macht aus, indem es ihr gestattet, in seinem privaten Raum Platz zu
nehmen. Und sich häuslich bei ihm einzurichten (Anders nennt dies „Binnen-Expansionismus“). Diese Entwicklung erleben wird aktuell
ganz konkret: In formschönen Geräten verpackt erobern Google Home, Alexa &
Co. unsere Wohnzimmer. Sie sind nicht allein Lautsprecher, sie sind auch
geduldige Zuhörer, die unsere Stimme erkennen, uns Rede und Antwort stehen. Sie
treten nicht mehr als Eindringlinge auf, sondern als dienstbare Gehilfen, ‚Sprach-Assistenten’,
die mit uns leben, bei uns wohnen und ohne Unterlass in gebotener Devotion bestrebt
sind, unsere Wünsche zu erfüllen (Uns wird dabei glauben gemacht, wir seien Subjekt, Unterwerfende, Herrscher des
Systems. Dieses ‚Subjekt-Sein’ wird aber durch die harten Fakten der Realität
ins Gegenteil verkehrt: Wir sind als Menschen nicht nur immer schon in unsere
Lebenswelt geworfen, mithin der Welt ‚unterworfen’, lat. subicere, wir sind auch Subjekt,
Unterworfene, Beherrschte des Systems).
Wir leben im Glauben, wir würden unseren klaglos
dienenden digitalen Assistenten Anweisungen
geben. Würden über Alexa und ihre Nachfolger zukünftig unser Smart-Home, die
digitalisierte Privatheit selbstbestimmt dirigieren. „Bosch bringt 2018 den per Alexa steuerbaren Staubsauger Roxxter auf
den Markt, dem man auch aus der Ferne per Kamera zuschauen kann. Von Siemens
gibt es Waschmaschinen, Trockner und Herde, die sich über Alexa steuern
lassen“, so Claudia Gerdes in der ‚Page’, Ausgabe 11.17. Unsere Helferlein hören
aufs Wort, begleiten uns nicht nur zuhause, sondern überall hin. Permanent.
Hören uns aufmerksam zu. Speichern alles. Werden mit den Kommunikationsknotenpunkten,
den mobilen Endgeräten vernetzt, so dass alle Informationen zusammenlaufen,
algorithmisch koordiniert werden können. Und wir jederzeit überall Zugriff auf unsere
treue Begleiterin Alexa haben, die mit Augen und Ohren, mit Kamera und Mikro,
ausgestattet ist. Alles hört. Alles sieht. Nichts vergisst.
Und dann in einer nicht allzu fernen Zukunft, vielleicht
schon 2030, ist der Ray Kurzweil’sche Break-Even-Point, die technologische
Singularität, erreicht. Die künstliche Intelligenz wird zum selbstlernenden
System, Alexas Daten werden eingespeist, das Mängelwesen Mensch wird
posthumanistisch transformiert, die Herrschaftsverhältnisse final umgekehrt – Günther
Anders schrieb seinen Aufsatz in der Ära der dritten industriellen Revolution,
als deren Beginn er die Entwicklung der Atombombe datierte. Die vierte
industrielle Revolution, die er prognostizierte, zeige sich im „Trend, den Menschen (...) überflüssig zu
machen“ (aber das ist noch mal eine andere
Geschichte: ‚Algorithmus und Spiritualität’ http://www.mythos-magazin.de/ideologieforschung/so_algorithmus.htm).
6.
Spricht Günther Anders, noch ganz Kind seiner
Zeit, von der Bedrohung durch den totalitären Staat, der versucht, durch das
impertinente Eindringen in die Privatheit, der „integralen Schamlosigkeit“, sein „Ideal der perfekten Integralität“ und „monolithischen Gesellschaft“ zu verwirklichen, so haben wir es
heute, neben staatlichen Instanzen, mit privatwirtschaftlichen Unternehmen zu
tun, die dieses Ziel nicht minder konsequent, aber auf eine deutlich sanftere
und damit perfidere Weise verfolgen. Wie zum Beispiel Google: Es pocht auf sein
vermeintliches Recht auf Wissen. Und speichert mit programmierter Selbstverständlichkeit
seines Android-Betriebssystems jede Tastenbewegung der User, so dass eine
lückenlose Nachverfolgung der individuellen Eingaben möglich ist. Nur: „Wo Abhörapparate mit Selbstverständlichkeit verwendet werden, da ist
die Hauptvoraussetzung des Totalitarismus geschaffen; und damit dieser selbst.“
Privatheit als Allein-Sein ist in diesem
Augenblick nicht mehr gegeben. Aber auch gar nicht mehr erwünscht. Für den
Abhörenden liegt die Privatheit des Abgehörten offen zutage, ist für ihn
öffentlich. Und der Abgehörte seinerseits hat es sich in dieser scheinbaren
Privatheit wohlig eingerichtet, zelebriert als saturierter Bürger den Aufbruch in
die schöne neue Welt des Smart-Home, genießt die Vorzüge, die ihm Alexa &
Co. bieten. Natürlich weiß er um den digitalen
Hausfriedensbruch, um die Möglichkeit der permanenten Überwachung, um die
astronomischen Datenmengen, die angehäuft werden. Nur versteht er das Ganze als
genau das, als das es ihm verkauft wird: als einen großen Schritt hin zur
maximalen Bequemlichkeit, die er als maximale persönliche Freiheit wahrnimmt.
Diese neue Form der totalitären, ja: totalen Macht
ist im Begriff, virtuell überall dort anwesend zu sein, wo wir sind. So dass
wir nie allein sind, nie eine ursprüngliche Privatheit erleben, ein auf unser
Dasein zurückgeworfenes Sosein. Unsere Lebenswelt ist mittlerweile eine, in der
alles gesehen, gehört, mitverfolgt und konserviert wird. Eine Welt, in der uns
sogar, man erinnere sich an die Worte Eric Schmidts, von Seiten der Abhörenden
das Recht bestritten wird, uns gegen unsere Abhörung zu wehren. Doch nur ohne
Abhörung vermögen wir die Privatheit zu wahren, die wir benötigen, um uns beizeiten
von dem Anderen diskret abgrenzen und ganz für uns sein zu können.
„Die
Gefährdung der Privatheit“ als
solche beginnt nach Anders also da, wo man es für möglich hält, kontrolliert zu
werden. Ich fühle und verhalte mich anderes: konformistisch. Ganz automatisch.
Denn „die unüberprüfbare Möglichkeit des
Überprüftseins hat entscheidende Prägekraft. Sie prägt die Bevölkerung des Landes“.
Wenn dies aber bereits bei den aus heutiger Sicht doch recht simpel anmutenden
Abhörmethoden der damaligen Zeit der Fall war – wie muss es dann heute, bei den
infernalischen Abhörmöglichkeiten digitaler Provenienz, die Bevölkerung prägen?
Denn heute ist die Omnipräsenz des Lauschers gegeben. Wir leben im Zeitalter der
Möglichkeit der totalen Überwachung: Die externe Aktivierung der integrierten
Kameras oder Mikrophone ist ein Kinderspiel – wir können prinzipiell auch dann
belauscht, beobachtet, kontrolliert werden, wenn wir nicht telefonieren,
fernsehen oder am Laptop arbeiten.
Als sei dies noch nicht genug, werden auch Überwachungssysteme
selbst überwacht. So rüstet der Sicherheitstechnik-Hersteller NetBotz seine
weltweit vertriebenen Überwachungskameras seit Jahr und Tag mit einem
digitalen Zugang aus, der es dem amerikanischen Geheimdienst NSA ermöglicht, „sich in sämtlichen mit NetBotz-Kameras gefilmten
Bereichen ebenfalls umzusehen“ (http://www.ingenieur.de/Themen/Datenschutz/US-Geheimdienst-zapft-weltweit-Ueberwachungskameras-an). Eben jene NSA, die über Jahrzehnte unkontrolliert und
unbeanstandet deutsche Ministerien ausgespäht haben, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth belegen konnte. Und die seit 2006 auch die Inhalte von
Telefongesprächen erfasst.
Diese, zumeist unbemerkt bleibende, Omnipräsenz
bedeutet eine schleichende Auflösung der Privatheit. Der Lauscher kann jetzt
auch visuell an Orten präsent sein, an denen er nicht präsent ist. „Sein“ heißt
fortan nicht mehr „Hier-Sein“ –
sondern zur gleicher Zeit „Überall-Sein“. Da wird die Ontologie quantenphysikalisch.
Für mich als Verbraucher und User bedeuten
Errungenschaften moderner Technik wie das Smart-Home durchaus so etwas wie eine
neue Freiheit. Aber sie bedeuten eben auch die dialektische Komponente: mehr
Unfreiheit. Denn wenn ich nicht mehr weiß, ob ich allein bin, weil die Anderen
in der Lage sind, sich unbemerkt von mir virtuell bei mir aufzuhalten, bin ich
nicht mehr der ‚Monopolist’ meiner ‚Raumstelle’. Dann hat meine
Privatsphäre aufgehört, privat zu sein: Sie gehört jetzt auch dem anderen.
7.
Meine Möglichkeiten, dem Anderen zu entrinnen,
mich ihm zu entziehen, sind begrenzt. Zumal ich mich höchst verdächtig mache,
wenn ich dies versuche: Es ist die nonkonformistische Flucht in meine
Privatheit, die erst noch als harmlos altbacken, anachronistisch, dann aber
zunehmend als technikfeindlich, subversiv, illoyal, gefährlich, gegen die
Gemeinschaft gerichtet angesehen wird. Als ‚Diebstahl’ wird dann nicht mehr
empfunden werden, wenn mir meine Privatheit durch totalitäre Mächte entzogen
wird, als ‚Diebstahl’ wird empfunden werden, wenn ich den totalitären Mächten meine
Privatheit entziehe – Eric Schmidts Pochen auf ein ‚Recht auf Wissen’ spricht da
Bände.
Wo das Recht auf Privatheit bestritten wird, wo
am Ende keine Privatheit mehr besteht, da besteht auch kein
Unrechtsbewusstsein, keine Spur von Schamempfinden mehr, wenn diese Privatheit
verletzt wird. Diese Abwesenheit ist aber keine Zukunftsmusik mehr, sie ist
längst Realität geworden – als akustischer Hausfriedensbruch, der mittlerweile auch
optischer und habitueller Hausfriedensbruch ist. Ganz besonders dort, wo wir
uns nicht in privaten Räumen, sondern im öffentlichen Raum bewegen. Günther Anders
machte hier auf die voyeuristische Komponente aufmerksam, die erst jetzt, im Handy-Zeitalter
–„Vorhandensein von Geräten (schließt)
deren Verwendung immer schon mit ein“ – der mehr oder weniger heimlich
aufgezeichneten und ins Netz zur öffentlich-lustvollen Verfügung gestellten Videoclips
von Mobbing-Opfern, von Vergewaltigungen, von kompromittierenden Vorgängen oder
auch des Unfallspottings, in ihrer ganzen Tragweite erkennbar wird. Da trifft
es sich gut, dass zahlreiche mobile Endgeräte mittlerweile über eine optische Aufzeichnungsqualität
verfügen, die denen vieler konventioneller Kameras oder Fotoapparate überlegen
ist.
„Es ist verboten,
Sendeanlagen oder sonstige Telekommunikationsanlagen zu besitzen, herzustellen,
zu vertreiben, einzuführen oder sonst in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu
verbringen, die ihrer Form nach einen anderen Gegenstand vortäuschen oder die
mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs verkleidet sind und auf Grund dieser
Umstände oder auf Grund ihrer Funktionsweise in besonderer Weise geeignet und
dazu bestimmt sind, das nicht öffentlich gesprochene Wort eines anderen von
diesem unbemerkt abzuhören oder das Bild eines anderen von diesem unbemerkt
aufzunehmen.“ So der Wortlaut von §
90 Telekommunikationsgesetz zum Missbrauch von Sende- oder sonstigen
Telekommunikationsanlagen. Verständlich, dass aufgrund dieses Gesetzes die
smarte Cayla, die
Spionin im Kinderzimmer, verboten wurde. Über eine ungesicherte, nicht
verschlüsselte Bluetooth-Verbindung ist die Puppe mit einer Smartphone-App verbunden. Da sich jeder problemlos
in diese Verbindung einschalten kann, stellt Cayla rechtlich gesehen damit eine
verbotene Sendeanlage dar.
Verboten ist laut Telekommunikationsgesetz generell
nicht allein der Betrieb, verboten ist bereits der Besitz solcher Anlagen für
nicht berechtigte Personen. Eigentlich. Die technische
Möglichkeit, digitale Endgeräte wie Smart-Phone, Laptop, Tablet oder das ans
Netz angeschlossene TV-Gerät durch externen Zugriff zu akustischen oder auch
optischen Aufzeichnungsgeräten werden zu lassen wie auch die Option, über mobile
Endgeräte als Schnittstelle der im Smart-Home vernetzten Haushaltsgeräte an
weitere detaillierte persönliche Informationen zu gelangen, wird jedoch nicht
nur im doppelten Wortsinn klaglos hingenommen. Sie wird begrüßt. Und
hemmungslos als Fortschritt gefeiert. Die Frage,
ob denn eben diese technischen Möglichkeiten digitaler Endgeräte und die damit
verbundenen „Akte des Abhörens“ so
ohne weiteres im Einklang mit § 90 Telekommunikationsgesetz stehen, stellt sich ihnen offenbar
nicht.
Der Spanner macht sich schon allein dadurch
strafbar, dass er spannt. Wenn er zum Spannen entsprechende technische
Aufzeichnungsgeräte besitzt, die womöglich auch noch als Sendeanlagen klassifiziert
werden können, macht er sich ebenso strafbar. Sowieso, wenn er sie
einsetzt. Und erst recht, wenn er das Aufgezeichnete, Aufgenommene, Geraubte
verwendet – egal, ob zum privaten Vergnügen, im Netz der Öffentlichkeit
präsentierend oder gar kommerziell. Das, was Google-Chef Eric Schmidt tut,
unterscheidet sich strukturell nicht sonderlich von dem, was der Spanner tut. Aber
er macht sich nicht strafbar. Im Gegenteil. Herr Schmidt besteht sogar darauf,
dass seinem Unternehmen prinzipiell das Recht zusteht, zu spannen. Dass es ihm
von Rechtswegen erlaubt werden muss, immer und überall spannen zu dürfen. Das
heißt: ihn alles wissen zu lassen. Nicht Abhören wäre dann ein Rechtsbruch, sondern das sich dem Abhören entziehen.
8.
Was Google wissen darf und was nicht – diese
Grenze will Eric Schmidt sich nicht von Gerichten ziehen lassen, die will er
selber bestimmen. Und im Zweifelsfalle lautet seine Antwort darauf, was Google
wissen darf, schlicht: alles. Dass hier ein „freiheitsberaubender
Missbrauch der Privatheit des Anderen“ vorliegt, kommt ihm nicht in den
Sinn. Dass dieses ‚Google-Ich’ dem Anderen ohne dessen explizite Kenntnis und
Zustimmung zuhört oder zusieht. Dass es sich „bei dem Anderen“ aufhält, ohne dass er es merkt oder weiß. Dass
die Entfernung zum Anderen „annulliert“ wird, „die Grenze zwischen ‚außen’ und ‚innen’“,
zwischen privat und öffentlich vollends aufgehoben wird – all dies ist ihm nicht
der Rede wert.
Das Perfide ist: Der Konformist, also der, der
sich der totalitären Macht ergibt oder schon ergeben hat, der eine
Mitgliedschaft in der monolithischen Gesellschaft anstrebt und bereits seiner
Privatheit entsagt hat, wird den Tabubruch des Hausfriedensbruchs als legitim
empfinden, die Schamlosigkeit und Indiskretion nicht als schamlos und indiskret:
„Der Vulgäre, also der Konformist von
heute, unterstellt als Selbstverständlichkeit, dass das Private nichts anderes
sei als der Vorwand für die Unterschlagung verbotener Handlungen.“
Das schulterzuckende Argument der Konformisten
lautete bereits im Amerika der 50er Jahre – und hier fühlt man sich
augenblicklich in die Gegenwart katapultiert: „But I have nothing to hide“. Die Konsequenz dieses Denkmusters:
eine Umwertung der Werte. Wer auf seiner Privatsphäre beharrte, also ‚schamhaft’
war, hatte etwas zu verbergen – etwas Verbotenes, Unmoralisches. ‚Schamhaft’ zu
sein galt seitdem als „unmoralisch“,
wer hingegen ‚schamlos’ war, also auf seine Privatsphäre verzichtete, als „moralisch“. „Weil Unrecht heimlich geschieht, Heimlichkeit und Privatheit eo ipso
Unrecht beweisen“, bedeutet Privatheit nunmehr, „Verbotenes zu verstecken“. Und der Einzelne hält sich, so die
Annahme, allein deshalb an die Moral und tut nicht das Unmoralische, Verbotene,
weil er davon ausgeht, unter Kontrolle zu stehen. Damit wird „etwas Unmoralisches: die Bespitzelung (...)
zur Bürgschaft der Moral gemacht“. Verkehrte Welt.
Die Eliminierung der Privatheit, die vollständige
Deprivatisierung des Individuums, die „totale Unverschämtheit“ vulgo „Schamlosigkeit“ einer totalitären Macht,
wird dann reibungslos gelingen, wenn die Bespitzelten „nichts Besonderes dabei finden“, bespitzelt zu werden. Und aktiv
und voller Freude an ihrer eigenen Deprivatisierung mitwirken: „Integrale Unverschämtheit kann allein dort
gelingen, wo ihr eine ebenbürtige Schamlosigkeit entgegenkommt: eine
gleichfalls totale“. Die Umwertung der Schamlosigkeit zur Tugend. Was einst
als amerikanisches Phänomen begann, hat heute die Welt erreicht.
In einer vollständig deprivatisierten Welt leben
nur noch vollends transparente Wesen. Wesen, über die bestenfalls alle alles
wissen. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass das Wissen „in authorized hands“ liegen wird. Und wer autorisiert ist, wird
kaum der Einzelne entscheiden, sondern eher die totalitäre Macht, die die Daten
an sich gebracht hat. Die, gehen wir nur einmal vom harmlosesten Fall aus,
Handel mit ihnen treiben wird. Denn Daten sind die neue Währung, die Datenbanken
ihre Depots. Douglas Merrill, Gründer von
ZestFinance und ehemaliger Chief Information Officer von Google, brachte es, so
Evgeny Morozov 2014, einmal auf den Punkt:
„Alle Daten sind letztendlich Kreditdaten“. Und die beeinflussen nun mal
unsere Kreditwürdigkeit. Verkaufen
Google & Co. nun ihr Wissen, verfügen bald nicht nur Geheimdienste oder
andere staatliche Organe, sondern auch Kreditinstitute, Versicherungen oder Krankenkassen
darüber.
Warum also haben wohl die beiden größten privatwirtschaftlich
organisierten Datensammler der Welt, Google und Amazon, einen digitalen
Sprachassistenten herausgebracht? Einen wie diese liebenswürdige Einbrecherin, die
wir sogar wie eine gute, alte Bekannte bei ihrem Vornamen – Alexa! – anreden und die mit sanfter
Stimme zu uns spricht, während sie dreist unsere privaten Daten abgreift. Die strukturell eine Abhör- und Überwachungsanlage
ist, die, während wir ihr ‚Anweisungen’ geben, die sie devot zu befolgen scheint,
von uns unbemerkt alle Daten in irgendwelche Datenbänke schleust, die wir nicht
kennen und wo von ihnen ein Gebrauch gemacht wird, von dem wir keine Ahnung
haben. Ja: Wo die entsprechenden Unternehmen sogar wie Zerberos über diese unsere
Daten wachen, weil sie diese Daten jetzt ihr Eigentum ansehen.
9.
Für Günther Anders war dieser Prozess der
schamlosen Deprivatisierung 1958 in den USA praktisch abgeschlossen. Wir hinken
da in der Entwicklung, wie in vielen Dingen, etwas hinterher. Reality Shows, Real Life Serien und ähnlich konsumistisch strukturierte Sendungen
sind für uns noch relativ neue Formate. So durfte sich Germany’s Next Topmodel erst 2006 in unseren Wohnzimmern seelisch
entblößen, Big Brother eroberte 2000
unsere Bildschirme.
Diese Show nahm inhaltlich wie auch
beim Titel bewusst Bezug auf George Orwells Dystopie eines totalitären
Überwachungsstaats. Wurde, wie es in dem Wikipedia-Eintrag zur Show heißt, das „bei seiner Einführung heftig umstrittene
Format zu Beginn als gesellschaftlicher Tabubruch erlebt“, wurde „die Zurschaustellung privaten Lebens in der
medialen Öffentlichkeit und damit verbunden der als ethisch fragwürdig
empfundene Eingriff der Fernsehsender in das Privatleben der Bewohner“
kritisiert, so nimmt heute keiner mehr an solchen Dingen Anstoß. ‚Der
Bachelor’ sucht sich zur allgemeinen Belustigung bei einer öffentlich
inszenierten Brautschau wie auf dem Viehmarkt das beste Weibchen heraus,
während die Verschmähten einem Millionenpublikum zum Fraß vorgeworfen werden. Umgekehrt
gilt dies auch für die Männchen, die von der Bachelorette verschmäht werden.
Weniger glamourös geht es bei ‚Bauer sucht Frau’ zu, aber das Grundprinzip der
öffentlichen Entblödung bleibt das gleiche.
Die Schamlosigkeit ist längst
Normalität geworden – auf Seiten der Konsumenten wie auch auf Seiten der
Konsumierten. Wen wundert es da, dass uns die Fiktion kaum noch als Fakt
verkauft werden muss, ist sie doch
für viele bereits Realität. So finden sie die ‚Wahre Liebe’ heute nicht mehr im
wahren Leben, sondern auf Love Island,
der aktuellen Dating-Reality-Show auf RTL 2, die in diesem Jahr auf Sendung
gegangen ist. Paarungsbereite Männchen und Weibchen werden dort, wie weiland bei
Heinz Sielmann Geparde, Otter oder Seemöwen, in allen Lebenslagen und in
Großaufnahme observiert, damit sich ein voyeuristisches Publikum an den wenig kamerascheuen,
promiskuitiven Pärchen, die ihrer Privatheit gänzlich entsagt haben, ergötzen kann.
Schamlosigkeit hat aber nicht nur eine solch sexuelle Dimension, sie kann
auch eine fast schon hegelianisch anmutende dialektische Dimension haben. Die
durfte Donald Trump in seiner 2004 ausgestrahlten Fernseh-Reality-Show ‚The Apprentice’ zelebrieren. Dort gab er den als mit totalitärer Macht ausgestatteten
Herrn, der die devoten Knechte, die vor ihm zu Kreuze krochen, lustvoll vor
einem Millionenpublikum desavourieren und ihnen ein nunmehr in Amerika geflügeltes
Wort entgegenschleudern konnte: „You're fired!“
Dumm
nur, dass jener Trump aus dieser Verwechslungsschleife von Fakt und Fiktion
nicht mehr herauskommt. Noch dümmer, vor allem für uns, dass er mittlerweile
mit einer Machtfülle ausgestattet ist, gegen die eben jener Big Boss in ‚The Apprentice’ wie ein mittelloser Zwerg wirkt.
10.
Deprivatisiert
wird aber nicht nur der so kannibalisch Konsumierte, deprivatisiert wird auch
der Kannibale selbst, der Konsument. Und dies, ohne dass es ihm so recht
bewusst wird. Er sollte deshalb, während er sich an ‚Big Brother’ labt, nicht
zu entspannt auf seiner Couch herum lümmeln. Denn Big Brother is watching him
too: „Überwachungskameras
zur Videoüberwachung (...), Fernsehempfänger mit Großbildschirmen und
integrierten Mikrofonen zur Entgegennahme von Befehlen sind überall, auch in
den Wohnräumen, präsent und schaffen eine allgegenwärtige, fast lückenlose
Überwachung der Individuen. Privatsphäre existiert so nicht mehr.“ So, wie
auf Wikipedia Orwells düstere
Zukunftsvision einer totalitären Gesellschaft beschrieben wird, klingt es –
erinnert man sich der technischen Möglichkeiten, die einem die digitalen Sprachassistenten,
die zu Computern transformierten Hybrid-Fernsehgeräte oder die mobilen Endgeräte heute
bieten – doch eher wie eine recht nüchterne Beschreibung der Faktenlage.
Wir sind, so Günther Anders, auf der
einen Seite anstandslos „bereit,
anstandslos zu sein, das heißt: jedem anderen alles zu zeigen“ – und auf der
anderen Seite sind wir anstandslos bereit, uns alles schamlos voyeuristisch
mitanzusehen. Schamlosigkeit allenthalben. Die keinen Tabubruch mehr darstellt,
sondern uns zur Tugend geworden ist. Der Zustand völliger Deprivatisierung ist
erreicht: „Unser Leben ist
Allgemeinbesitz geworden.“
Der Preis für diese Preisgabe der
Privatheit und Individualität ist die Konformität, sie wird zur verbindlichen
Moral. Doch als sterbenslangweiliger Konformist, als Gleicher unter Gleichen,
will niemand gelten. Das ist doppelt plus ungut. Drum versucht man sich den
Anschein des coolen Nonkonformisten zu geben. Und geht jenen Weg der medienöffentlichen
Deprivatisierung. Oder den der Selbstvermarktung als Influencer in den diversen
Sozialen Medien. Oder. Oder. Oder. Ihm wird als gewöhnlicher Mensch „eine ungewöhnliche Chance der Heuchelei zum
Geschenk gemacht“, so analysiert Anders treffend. „Jeder John Doe (kann) die ihm entsprechende ‚self-expression’ finden“.
Sie ermöglicht es ihm, sich aus der Masse abzuheben, „verschafft (ihm) die Genugtuung, hervorzuragen“: Wir, John Doe, Max
Mustermann und Lieschen Müller, gehören „nunmehr
zur Bruderschaft der ‚creative ones’, der Michelangelos, der Beethovens und van
Goghs“.
Da, wo der „der sanfte Totalitarismus“ der digitalisierten Gesellschaft sein Werk heimlich, still und leise verrichtet, wo der
Mensch sich und seine Privatheit in vermeintlich freier Entscheidung mit
Freuden preisgibt, da muss er gar nicht mehr beraubt werden: Wir werden „zum Mitarbeiter an (unserer) eigenen
Deprivatisierung“. Sei es nun als Teilnehmer bei ‚Big Brother’ oder ‚Love
Island’, sei es als Zuschauer, sei es als User beim unreflektierten,
unkritischen Einsatz von ‚Android’ (der Name des Betriebssystems ist wohl mit
Bedacht gewählt, bezeichnet er doch die Maschinenwesen, die menschengleich
agieren – wie schon den berühmten Schachtürken des 18. Jahrhunderts), der
permanenten Aktivierung ergo Erreichbarkeit unserer mobilen Endgeräte, die eine
Ortung, Nachverfolgung und Initiierung als Abhör- und Abseheinrichtung
ermöglicht.
Die Umwertung der Werte führt dazu,
dass sich unsere ‚Schamlosigkeit’ als
Ausweis an Loyalität, als Treuebekenntnis zur Konformität, Privatheit hingegen
als Treuebruch darstellt. Dabei ist die „Unverschämtheit“
der einen die „Schamlosigkeit“ der
anderen: Spitzel und Exhibitionist sind Partner in einem Spiel – bis hin zum
Rollentausch. „Die Figur des
Zeitgenossen“, so Anders, ist
schamlos, insofern er unverschämt ist – und umgekehrt. Der Schamlose empfindet
die Unverschämtheit nicht mehr als unverschämt wie auch der Unverschämte den
Schamlosen nicht mehr als schamlos, sondern
als völlig normal empfindet. Was umgekehrt natürlich dazu führt, dass
derjenige, der Scham empfindet, und derjenige, der nicht unverschämt ist, nicht
mehr als normal, sprich: konform, empfunden wird. Mit allen nur denkbaren Konsequenzen.
Und vielleicht dereinst auch den undenkbaren.
Diese Deprivatisierung, die eine Enteignung
und Sozialisierung meiner selbst entspricht, wird als ebenso normal empfunden. „Unser Leben ist Allgemeinbesitz geworden“,
doch was hier sozialisiert wird, ist
nicht das, was ich habe, sondern das,
was ich bin – Ich.
Ich gebe mich ab und damit meine
Individualität auf. Was aber dem modernen Menschen kaum etwas auszumachen
scheint, wurde er doch zuvor davon überzeugt, dass er sich über das Materielle,
also über das, was er hat, was er besitzt,
zu identifizieren und definieren hat und nicht über das, was er ist. Der Verlust meiner selbst wird so
nicht als Verlust empfunden. Mir wurde ja nicht genommen, was ich habe, sondern
nur, was ich bin.
Diese Form der Selbstdefinition hat der
Mensch im Wesentlichen durchgängig akzeptiert. Es
ist die ‚Konformismus’ genannte Variante des sanften Totalitarismus, die sich
schleichend ausbreitet, einvernehmlich, ohne Gewalt, ohne Terror. Das
Erschreckende dabei ist: Wir, die Bespitzelten, sind „Bundesgenossen der Spitzel“. Wir haben uns als Opfer mit den
Tätern gemein gemacht, haben als Opfer längst unser Opfer gebracht, ohne dieses
als solches zu erkennen: Wir haben unsere Autonomie, unsere Privatheit, unsere Individuation
preisgegeben, ihr entsagt.
Das, was zu Anders Zeiten in den USA
seinen Anfang nahm, ist heute im Zuge der Medialisierung und digitalen
Transformation unserer Lebenswelten, und damit einhergehend unserer Gesellschaften,
weltweit weitgehend umgesetzt. Aus der akustischen Leine ist die digitale Leine
geworden, die weit größere Möglichkeiten bietet: Uns wird die Freiheit, „ungehört“ zu bleiben, ebenso geraubt wie
die Freiheit, „unhörend“ zu leben.
Wir müssen nicht nur mit dem Lärm leben, wir sollen es auch. Denn die
Möglichkeit permanenter Berieselung und Beschallung, die zumindest potentiell permanente
Erreichbarkeit und die damit verbundene Option, uns auch an den entlegensten
Orten dieser Welt zu belärmen, zu berieseln und zu beschallen, hat eine normative
Funktion:
Im Prozess der akustischen bzw.
digitalen Freiheitsberaubung und Deprivatisierung, die uns als gigantische
Errungenschaft, als einzigartiger Fortschritt und Zuwachs an Freiheit verkauft
wird, stellt dieser Lärm „eines der
Hauptinstrumente des Konformismus“ dar.
11.
Theoretisch könnten wir auch
GPS-tauglichen mobilen Endgeräten entkommen, könnten wir das Unmögliche
möglich machen: könnten weghören. Wir müssten die Geräte nur zuhause lassen,
entsorgen. Aber das verführerische digitale Substitut des Lärms besitzt ein
immenses Suchtpotential.
Wir erleben
die Unerreichbarkeit nicht mehr als Genuss, sondern als Bedrohung.
Die permanente Erreichbarkeit ist längst Teil unseres
Selbstverständnisses und damit Teil unseres Selbst geworden. Ohne sie mutieren
wir zu einem hysterischen Zellhaufen, verhalten uns wie ein Junkie auf Turkey:
Wir fühlen uns beraubt, das Band zur Zivilisation – zerschnitten. Erst wenn wir
aus dem Funkloch kriechen, wenn wir den nächsten Schuss gesetzt haben, wenn der
sehn-süchtige Blick aufs Handy die gewohnte Balkenstärke zeigt und wir wie
gewohnt Informationen abrufen und menschliche Stimmen vernehmen können, erst
dann normalisiert sich unser Puls: Hier zeigt sich, wie sehr wir Menschen mittlerweile
an der digitalen Leine hängen.
Das, was uns als größter Fortschritt,
als größtmögliche Freiheit verkauft wird, erweist sich als größtmögliche Unfreiheit:
Dieses Substitut des Lärms hält uns Individuen fest im Griff, lässt keinen
Platz auf der Welt mehr zu, an dem wir wir selbst sein können. Ganz allein, nur
für uns. Die integrierten Kameras und Mikrophone, die GPS-Tauglichkeit, sie
alle stellen ein Mit-Sein sicher, einen Anschluss an die von uns mit
konstituierte konforme Zivilisation. Dieser Anschluss eliminiert unsere Chance
auf eine nicht öffentliche und nicht veröffentlichte Privatheit: rein technisch
ist immer sowohl ein gewolltes Hören als auch ein ungewolltes Mithören
inkludiert. Doch diesen Tabubruch, diesen ‚Hausfriedensbruch’ nehme ich liebend
gerne in Kauf – ich habe ja nicht nur nichts zu verbergen, ich verliere ja auch
nichts. Nur mich selbst, mein Selbst. Doch diesen Verlust empfinde ich durch
die Umwertung der Werte nicht mehr als Verlust.
Das Handy wird zum verlängerten
digitalen Arm des Megaphons, Lautsprechers und Abhörgeräts, der integrierte
Videoassistent zum Orwell’schen Teleschirm. Ich bin immer erreichbar, immer
greifbar. Kann dem Zugriff nicht entrinnen: „Erreichbarkeit
und Greifbarkeit werden dann zu (meiner) zweiten Natur“. Ich degeneriere
zum Sklaven der technischen Möglichkeit, der seine „Versklavung sogar selbst kultiviert, so dass er sich, wenn er
zufälligerweise einmal nicht greifbar ist, verloren fühlen wird“.
Mit dem Faktum der ständigen
Erreichbarkeit durch das digitale Substitut des Lärms „ist das De-privatisierungsideal des Konformismus erreicht“, der
Prozess vollendet: Ich bin hörig. Gehöre nunmehr zu dieser Welt, ja: gehöre
dieser Welt. Ich habe mich freiwillig deprivatisiert, mich der ständigen
Erreichbarkeit und damit der Überwachung ergeben. So sehr, dass ich meine
Unfreiheit als Freiheit empfinde und meine Freiheit als Unfreiheit: Reißt die
digitale Leine, und sei es auch nur für einen Moment, gehöre ich keinem Wir
mehr an. Bin beziehungslos. Kann nichts mehr hören, nicht mehr mithören, nicht
mehr abgehört werden. Bin alleine, nur noch auf mein Ich geworfen. Lost in
space. Dieses Allein-Sein ist für den modernen Menschen und sein konformistisches
Ich der Super-GAU. Denn für ihn ist das Dabeisein der einzig akzeptable, ihn
definierende Seinszustand:
„Ich
bin dabei, also bin ich da, also bin ich“.
Literatur
Anders, Günther (2013): Die Antiquiertheit der
Privatheit, in: Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, München:
Verlag C.H. Beck, S. 210-246
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