Freitag, 7. Oktober 2016


Mensch Maschine!


Wir führen endlose Debatten über die gleiche Bezahlung der gleichen Arbeit von Mann und Frau. Völlig zu Recht, sicherlich. Aber das Leben ist längst schon ein Schritt weiter: 
Im Zuge der fortschreitenden digitalen Transformation der Arbeit müssen wir uns vielmehr darüber Gedanken machen, wie zukünftig da, wo Maschinen Menschen ersetzen, Maschinen wie Menschen Steuern zahlen, damit der Staat überhaupt noch die Einkünfte generieren kann, die er benötigt, um seinen Verpflichtungen gegenüber den Bürgern nachzukommen.

Dienstag, 4. Oktober 2016


Die Mühsal der Eigenverantwortung


 
Im August 1975 kam es in Erfurt zu gewalttätigen Übergriffen auf algerische Vertragsarbeiter. Ein fremdenfeindlicher Vorfall, der von der Führung der DDR ebenso unter den Tisch gekehrt wurde wie der Mord an zwei Kubanern in Merseburg 1979 und all die anderen Taten, die sich dort in den 70er und 80er Jahren ereigneten. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein durfte. Schließlich baute man in internationaler Solidarität gemeinsam am großen proletarischen Projekt „Sozialismus“. Und da hatte man längst jene völkisch-atavistischen Denk- und Verhaltensstrukturen überwunden, die dem kapitalistischen Bruder im Westen noch zu eigen waren.

Denkste. Wo keine selbstkritische Aufarbeitung stattfindet, kann auch nichts überwunden werden. Das Gegenteil war der Fall: Diese Denk- und Verhaltensstrukturen überlebten und manifestierten sich in weiten Teilen der Bevölkerung unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Dort schlummerten sie so lange, bis sie sich bei nächster Gelegenheit Bahn brachen. So 1991, kurz nach der Wende, „als Rechtsextreme in Hoyerswerda Brandsätze auf Migranten schleuderten“ und „Hunderte ihnen zujubelten“, wie David Krenz im „Spiegel“ berichtet.

Deutschland den Deutschen! Kanakenviehzeug!“ Die damaligen Rufe klingen nicht viel anders als heute, 25 Jahre später. Doch war und ist der blinde Hass, diese Angst vor „Überfremdung“ und „schrankenloser Überschwemmung durch Migranten“ angesichts nur weniger Ausländer in den neuen Bundesländern schon rein rechnerisch völliger Mumpitz. Eine Tatsache, die vermuten lässt, dass eine solch identitäre Grundstimmung, der Wille nach Bewahrung einer ethnisch reinen und kulturell homogenen Gemeinschaft, von der Faktenlage völlig losgelöst ist. Damals wie heute.

Neben dieser irrationalen Angst vor Überfremdung hat sich verstärkt eine persönlich empfundene Bedrohung jedes Einzelnen ausgebildet, eine Angst um das gewohnte Umfeld, um die Bewahrung der Lebensqualität und der vertrauten Werte.

Dies gibt der Kontinuität der völkischen Haltung eine befremdlich seriöse Erdung, eine vermeintliche Rechtfertigung für die Rückbesinnung auf den Zusammenhalt der deutschen Gemeinschaft, auf die Berufung auf eine Identität. Die aber natürlich exklusiv vertreten wird: „Wir sind das Volk!“

Da geht es um Zugehörigkeit, Geschlossenheit, Einheit. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung Andersdenkender sowie fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt sie hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto kategorische Ablehnung aller widerstrebenden Meinungen und schiere Fremdenfeindlichkeit ist.

Der Schritt von der Feindlichkeit allem Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen zur Wahrung der eigenen, Frau Petry nennt es heute ganz unverblümt und völlig ungeachtet der historischen Konnotation: völkischen Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit ist klein.

Die unterschwellige Kontinuität der Ansichten vom Dritten Reich bis heute ist erschreckend. Insbesondere in den neuen Bundesländern, aber durchaus auch in den alten. Da wird Arnold Gehlen wieder rezipiert, als wäre nie was gewesen. Carl Schmitt ebenso. Oder auch Oswald Spengler. Peter Sloterdijk bemerkt in seiner rhetorischen Selbstverliebtheit gar nicht, wohin es ihn treibt. Sein Famulus Marc Jongen ist da schon ehrlicher und als Haus- und Hofvordenker längst auch offiziell bei der AfD angekommen. Und Armin Mohler, „Schlüsselfigur bei der Reorganisation der äußersten Rechten in der Bundesrepublik“, so Volker Weiß in der „ZEIT“, feiert fröhlich völkische Urständ in der Pegida-Bewegung.

Was geht hier vor?

Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass es sich bei der vielzitierten 'Besorgnis' der Bürger um ein Phänomen handelt, das deutlich komplexer ist als es scheint. Und weit weniger auf einer politischen denn eher auf einer psychologischen Ebene angesiedelt ist:

Die ökonomischen Eckdaten Deutschlands belegen, dass die Lage, im internationalen Vergleich, de facto ausgezeichnet ist. Unsere politische Stabilität sucht weltweit ihresgleichen. Die Diskussion um die Obergrenze der Flüchtlinge nimmt absurde Züge an, da die aktuellen monatlichen Zahlen zeigen, dass wir, umgerechnet aufs Jahr, nicht annähernd besagte Obergrenze erreichen werden. Die Angst um die Werte des christlichen Abendlands ist ausgerechnet dort am größten, wo aufgrund einer staatlich verordneten Säkularisierung seit 1945 das Christentum aus dem öffentlichen wie auch privaten Leben fast gänzlich verschwunden ist. Und der Teufel in Gestalt des muslimischen Flüchtlings wird vor allem da an die Wand gemalt, wo kaum je ein Flüchtling gesichtet wurde.

Hier wird also subjektiv zunehmend etwas als Bedrohung empfunden, was einer objektiven Entsprechung entbehrt. Und das scheint das eigentliche Problem und damit die größte Gefahr zu sein: Es gibt die Bedrohung nicht als Faktum, nur als Fiktion. Weil diese Fiktion aber als wahr wahrgenommen wird, ist sie für den ‚besorgten Bürger’ auch wahr. Und damit für ihn Faktum.

Wie aber ein Problem lösen, das, zumindest in dieser dramatisch überzeichneten Form, nicht rational zu begründen ist, sondern nur subjektiv empfunden wird? Die Hunderttausenden von Emigranten aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nach Westeuropa und da insbesondere nach Deutschland strömten, haben unseren Staatshaushalt deutlich stärker belastet als der "Migrationstsunami", der heute heraufbeschworen wird. Von den Sozialleistungen für Spätaussiedler, von Eingliederungshilfe über Rentenanspruch bis zur einmaligen Entschädigung, und dem Anspruch auf einen deutschen Pass ganz zu schweigen.

Ja, in Deutschland liegt vieles im Argen, wie Harald Welzer in einem Beitrag für den „Spiegel“ noch einmal ausdrücklich betont, so „skandalöse Bildungsungerechtigkeit, Kinderarmut, ausufernder Lobbyismus, um das Gemeinwohl unbesorgte Teil des Top-Managements, Vertrauensverluste gegenüber den Parteien, sinkendes Systemvertrauen, Überwachung“ und anderes mehr. Alles Dinge, die aber rein gar nichts mit der Flüchtlingsproblematik zu tun haben.

Hieraus speist sich jedoch insbesondere in den westlichen Bundesländern ein allgemeines Unbehagen, das schon lange unter der Oberfläche gärt – bereits 1992 erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache Politikverdrossenheitzum ‚Wort des Jahres’. Da ein solches Unbehagen immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, setzt es auf altbekannte Schemata auf und sucht sich ein naheliegendes Ventil: Einen wehrlosen Gegner, der das ideale Opfer darstellt. Und eine Identität, die verbindet. Klare Verhältnisse, einfache binäre Zustände: Wir/ihr. Freund/Feind. Schwarz/Weiß. Geschlossene Gesellschaft, Zutritt verboten!

Es handelt sich dabei jedoch um ein Phänomen, das weit über die beiden Teile Deutschlands und ihre jeweiligen historischen Spezifika hinausweist. Es ist eines, das strukturell das Trumpsche Amerika ebenso betrifft wie das Orbansche Ungarn, das Wildersche Holland, die Erdogansche Türkei, aber auch den islamischen Extremismus im Westeuropa dieser Tage. 

Hinter diesem vagen, kaum klar zu artikulierenden Unbehagen, das weltweit in unzähligen nationalen Ausprägungen erscheint und jeweils seine zum Teil abscheulichen Ventile sucht, scheint ein manifestes, grundlegendes Problem unserer Zeit zu stecken.

Der einflussreiche Soziologe Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.

Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern. 

Nun sind aber, so Elias, die ‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.

Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten "Wir" zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’ kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir absolut und ewig bestehend erscheinen.

Jedes Denken ist aber, wie der Soziologe Karl Mannheim betonte, notwendig perspektivisch. Und jede Weltsicht damit relativistisch, weil sie sich, je nachdem, welche Position man in einer Gesellschaft einnimmt, ändert. Wird eine dieser Sichtweisen jedoch verabsolutiert, so wird sie ideologisch. Und aggressiv gegen Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Wenn nötig, bis aufs Blut: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das gilt für alle Reihen. Seien es nun islamistische, osmanische, völkische oder ganz allgemein nationalistische.

Dann ist kein Dialog mehr möglich. Denn der setzt voraus, dass man prinzipiell bereit sein muss, seinen Standpunkt im Dialog zu revidieren. „Wo Gewalt herbeigeredet, befürwortet, angewendet wird, da hilft nur die Durchsetzung des Rechts, kein Argument“, so Harald Welzer.

Das Argument ist zutreffend, gilt aber leider nur für den deutschen Rechtsstaat.

Sonntag, 25. September 2016


Denk ich an Heine in der Nacht


Anfang der 80er, als die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität noch schnöde ‚Universität’ hieß, pinselte in einer Nacht- und Nebelaktion die Studentenschaft ein gut 10 Meter großes Konterfei Heines auf die geschwungene Außenwand des Hörsaals 3A. Ein Mahnmal im wahrsten Sinne des Wortes, weithin sichtbar auf dem Campus, direkt am stark frequentierten Weg zur Mensa gelegen.

Flugs sah sich eine aufgeschreckte Verwaltung dazu veranlasst, diesen ungeheuerlichen anarchischen Akt zu tilgen und zu übertünchen. Wehret den Anfängen, dachte man sich wohl in den Amtsstuben. Und bloß keinen Gedanken an Gedanken abseits behördlich vorgeschriebener Wege verschwenden.

Womit die werten Damen und Herren jedoch nicht gerechnet hatten: Nach jedem kräftigen Regenguss trockneten die Farben und der Beton in leicht unterschiedlichen Zeiträumen. Statt, wie gewünscht, wieder Grau in Grau zu glänzen, tauchte plötzlich, wie aus dem Nichts, für eine halbe Stunde der gute Harry Heine wieder auf.

Hämisch grinsend, wie mancher meinte erkennen zu können. Und das nach jedem Schauer. Als wiederkehrende Mahnung, nicht stets den gewohnten Gang zu gehen. Den ewig gleichen Trott, gleichförmiges Kontinuum des grauen Alltags. Sondern, und sei es nur für einen kurzen Moment, innezuhalten. Nachzudenken. Seine Gedanken zu ordnen. Zu gliedern und zergliedern’: „etwas (besonders ein organisches Ganzes) in seine Teile zerlegen (um seine Beschaffenheit zu ergründen)“. Gliedern, um zu gliedern, lat. „articulare“: Gedanken, die, artikuliert, zu Worte werden.

Man muss dann eigentlich nur noch den Mund aufmachen.

Dienstag, 20. September 2016


Mein Traumberuf



Nein, Astronaut wollte ich nie werden. Was aber sicher nicht so sehr an meiner ausgeprägten Höhenangst liegt. Die hätte sich ja vielleicht ab 380.000 Kilometer über der Erde etwas gelegt. Doch darüber will ich jetzt nicht groß spekulieren, der Zug ist schließlich abgefahren. Weshalb ich mir auch keine Sorgen mehr um meine Neigung zur Klaustrophobie mache, die mich in beengten Verhältnissen, wie sie nun mal da oben in Raumkapseln herrschen, vielleicht übermannt hätte. Zumal ich diese Neigung mit rund 7% der Bevölkerung teile. Und geteiltes Leid ist halbes Leid, also alles halb so wild. Schwamm drüber.

An meinen marginalen persönlichen Unzulänglichkeiten lag es demnach nicht, dass ich mich einfach nicht zum Astronauten berufen gefühlt habe. Obwohl auch ich natürlich, wie wohl alle, deren Familie bereits im Juli `69 einen Fernseher ihr Eigen nannten, zu nachtschlafender Zeit vor der Glotze saß, um mit meinem Vater um Punkt 3:56 Uhr MEZ gebannt die ersten Schritte des Man on the Moon zu verfolgen.

Aber trotz dieses epochalen Ereignisses: Sigfried Held war mein Held, der Dortmunder Stürmer, das kongeniale Pendant zur linken Klebe Lothar ‚Emma’ Emmerich. Und nicht Neil Armstrong. Warum? Was für eine Frage: Weil der Spaziergang auf dem Erdtrabanten nun mal nicht Armstrongs Idee war. Er hat doch nur getan, was er tun sollte. Als Kind stand mir aber nun wirklich nicht der Sinn danach, jemanden toll zu finden, der nur tut, was andere ihm sagen. Ob’s nun die NASA war oder der eigene Vater.

In meinen Zukunftsträumen schwebt mir was anderes vor. Radikaleres. Verwegenes. Etwas, wo ich selber bestimmen konnte, wo die Reise hingeht. Wobei ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte, dass ich bei aller Radikalität und Verwegenheit doch äußerst bescheiden war: Meine Zukunftsträume scherten sich damals nämlich nicht um die Zukunft, sie waren schlichte Träume. Weshalb ich eben auch kein Astronaut sein wollte. Sondern ein einfacher Oneironaut.

Nie gehört? Macht nichts. Ich auch nicht. Bis vor kurzem zumindest. Was aber auch nichts zur Sache tut. So wollte ich eben etwas sein, von dem ich zwar bis dato nicht wusste, wie es heißt, ich aber wusste, was es heißt, einer zu sein. Ein Oneironaut. Oder auf gut Deutsch: ein Traum-Seefahrer.

Der kann das, wovon ich als Kind immer geträumt habe: Die schnöde Realität mit leichter Hand hinter sich lassen. Er kann Klarträume erleben, also Träume, in denen er sich bewusst ist, dass er träumt. Er kann sie gezielt erleben. Und kann sie so steuern, wie er will.

Wenn ich’s mir recht überlege, hat sich bei mir seit damals eigentlich nicht viel geändert. Schließlich träum’ ich grad jetzt wieder davon, mir die Welt so zu machen, widdewidde sie mir gefällt...

Samstag, 17. September 2016


Unerhörte Gedanken, Teil 3



1.

Gott sei Dank.

Es gibt sie noch, diese aufrechten Menschen mit gesundem Menschenverstand. Die imstande sind, die unumstößlichen Wahrheiten und ehernen Gesetze des Miteinanders in einfache, unmissverständliche Worte zu fassen.

So jemand ist Viktor Orban, der amtierende ungarische Ministerpräsident. Er hat der weltfremden Diskussion um die Integration von Flüchtlingen, die derzeit geführt wird, ein ultimatives Ende bereitet. Dank seiner unendlichen Weisheit wissen wir nun verbindlich:

Jeder Migrant, der kommt, stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar.

Punkt. Aus. Ende der Diskussion.

(Da fällt mir mit Schrecken ein: Was ist eigentlich mit den ‚Horden von Migranten’, die zwischen 1953 und 1989 auch aus Ungarn, der CSSR und DDR zu uns kamen? Und dem ‚Migrationstsunami’ nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime im Ostblock? Hundertausende von Migranten, alle untergetaucht und hier als Schläfer im Terroreinsatz??!)




2.

Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.

Dieser Satz hat mich jahrelang begleitet, damals, als ich als Pennäler mit dem Bus zur Schule fuhr. Wie ein Menetekel prangte er dort am Ende des Ganges, hoch über dem Fahrer. Unübersehbar. Eine eindringliche Mahnung für alle, die den Bus betraten. So auch für mich. Geradezu ehrfurchtsvoll habe ich mich all die Jahre daran gehalten. Weniger, weil ich des Busfahrers knarzige Stimme aus dem Lautsprecher fürchtete, der jedwede Zuwiderhandlung mit einer gebellten Verbalnote ahndete. Nein, weil mir als Kind die Mahnung völlig plausibel erschien. Schließlich wollte ich ja, dass mich der Fahrer, durch nichts und niemanden abgelenkt, sicher zur Schule brachte.

Ein kategorischer Satz, wie in Stein gemeißelt. Nur dass sich im Zeitalter der mobilen Kommunikation niemand mehr daran hält. Auch nicht die Fahrer. Und erst recht nicht die StVO. Denn die erlaubt es Fahrern, über eine Freisprechanlage während der Fahrt mit Anrufern zu sprechen.

Das Kind in mir ist erschüttert.




3.

Die ersten durch den Klimawandel verursachten irreversiblen Schäden lassen sich nicht mehr wegdiskutieren, kaum jemand bestreitet noch ernsthaft die gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die uns in den kommenden hundert Jahren bevorstehen werden. So zum Beispiel der Exodus ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem pazifischen Raum, der dort, durch den Anstieg des Meeresspiegels, bereits eingesetzt hat.

Dumm nur, dass diese Menschen derzeit nicht den Hauch einer Chance haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden: Rein rechtlich gibt es nämlich keine Klimaflüchtlinge, da der Klimawandel in der Genfer Flüchtlingskonvention bislang nicht als Fluchtgrund aufgenommen wurde.

Kaum anzunehmen, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird, wehren sich doch viele Staaten, insbesondere Australien und Neuseeland, mit Händen und Füßen dagegen. Denn beide Staaten befürchten, nicht ganz zu Unrecht übrigens, dass sie sonst durch die Einwohner der durch den unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels dem Untergang geweihten melanesischen und polynesischen Inseln in den kommenden Jahren förmlich überrannt werden.

Nun aber bekommen eben jene Klimaflüchtlinge, die keine sein dürfen, Beistand von einer der Empathie ansonsten völlig unverdächtigen Seite: Hochrangige amerikanische Militärs fordern aktuell von ihrer Regierung vehement ein deutlich erhöhtes Engagement für den Klimaschutz, sehen sie doch in dem Klimawandel und dem damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels eine akute Bedrohung.

Ihrer küstennahen Militärstandorte, nicht der am Meer lebenden Menschen.

Dienstag, 13. September 2016


Noch mehr unerhörte Gedanken



1.

Die Realität schreibt immer noch die besten Pointen: Bundesfinanzminister Schäuble plant für 2017 eine Erhöhung des Kindergelds – um 2 Euro.



2.

Im August 1945 erschien George Orwells utopische Fabel Animal Farm, eine Abrechnung mit dem pervertierten Sozialismus stalinistischer Prägung. Weil die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt aber noch Alliierter der Westmächte war, versuchte die Regierung des Vereinigten Königreichs die Veröffentlichung des Buches zu verhindern. Diesen Akt vorauseilender Selbstzensur klagte Orwell im Vorwort der Fabel unter der Überschrift The Freedom of the Press an. Und hielt darin ein flammendes Plädoyer für die Freiheit des Wortes:

Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“


Die Verlage nahmen ihm dieses Recht – das Vorwort fiel eben jener vorauseilender Selbstzensur zum Opfer, die Orwell darin anprangerte. Das Buch erschien, das Vorwort nicht. 1  Was für eine bittere Ironie.

Für Orwell stellte die Freiheit, das zu sagen dürfen, was andere nicht hören wollen, ein so hohes Gut dar, dass alle in dessen Genuss kommen sollten. Völlig unabhängig davon, was sie sagen. 

Diese Freiheit jedoch ist ein zweischneidiges Schwert. Und manchmal nur schwer zu ertragen. Ich zum Beispiel würde am liebsten gar nichts mehr von der Herzogin von Oldenburg vulgo Frau von Storch hören. Oder von dem beurlaubten Gymnasiallehrer Höcke. Erst recht nichts von den Herren Erdogan, Orban, Wilders, Kaczynski, Hofer, Trump, Putin oder Dutarte. Um nur einige wenige zu nennen.


1Erstmals wurde das Vorwort im September 1972 veröffentlicht. Aber nicht als Vorwort des Buchs, sondern, eingeleitet von Bernhard Crick, in The Times Literary Supplement.




3.

Fangfrage: Von wem stammen die folgenden Zitate?

1. „Wir sind dagegen, dass sich unser weltoffenes Land durch die Zuwanderung oder Flüchtlingsströme verändert.
2. "Wir sind weltoffen, wir sind tolerant, wir sind nicht gegen Fremde. Aber es ist unser Land, es ist unser Volk, und es ist nicht das Volk von Fremden."
3. „Heute sind wir tolerant – und morgen fremd im eigenen Land.“

(Falsch. Nur ein Zitat stammt von AfD-Vize Alexander Gauland.)



4.

AfD-Chefin Frauke Petry hat, wie viele andere Vertreter der Neuen Rechten auch, ein recht klar strukturiertes Weltbild: Im Einklang mit dem Ethnopluralismus der Identitären Bewegung plädiert sie für eine ethnische und kulturelle Homogenität der Völker, die rein ist von fremdvölkischen Einflüssen.

Verständlich, dass sie deshalb den Begriff „völkisch“, völlig ungeachtet seiner historischen Konnotation, positiv besetzen möchte. Eine Absicht, die sie eben erst in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ zum Ausdruck gebracht hat. Nur konsequent, wenn sie in diesem Zusammenhang betont, dass für sie die Aussage „’völkisch’ ist rassistisch“ eine „unzulässige Verkürzung“ darstellt.

Warum? Weil sie ja, ganz unverfänglich, nur die ethnische und kulturelle Homogenität vor Augen hat, nicht aber, wie ehedem die Nationalsozialisten, die erbbiologische. Unter dieser verharmlosenden Prämisse lässt sich, ohne jegliche sprachliche Scheu vor den Implikationen, daraus flugs ein völkischer Gegenentwurf zur multikulturellen Gesellschaft entwickeln.

Scheinbar großherzig und liberal, pluralistisch und weltoffen wird dort allen Völkern, natürlich nur zum Schutz ihrer eigenen, ‚völkischen’ Identität, das Recht auf Homogenität zugesprochen.  Doch da, wo der Ethnopluralist von ‚alle’ spricht, meint er nur ‚wir’: Fremde Ethnien interessieren ihn nur insoweit, als dass sie sich schnellstmöglich in ihre jeweiligen Herkunftsländer verziehen.

Dem Ethnopluralisten geht es einzig um die Identität seines jeweils eigenen, in diesem Fall: um die des deutschen Volkes. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto schiere Fremdenfeindlichkeit ist. 

Und der Schritt von der Feindlichkeit allem Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen zur Wahrung der völkischen Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit, ist klein.

Sehr klein.

Der nächste Schritt ist noch kleiner.




5.

In der ersten mekkanischen Phase waren die Suren, so die gängige Ansicht der Islamwissenschaft heute, „von dem Gedanken an die unmittelbare Ankunft des jüngsten Gerichts sowie der Vorstellung an einen barmherzigen Schöpfergott bestimmt“. Zu diesem Zeitpunkt ist der Islam noch keine ausgestaltete, eigenständige Religion, eher eine von der Begegnung mit Judentum und Christentum sowie den urchristlichen Werten geprägte, ursprünglich friedvoll-reformerische Bewegung: Mohammed wollte Juden und Christen auf den rechten Weg zu dem ursprünglichen abrahamitischen Glauben, den er ‚Islam’, Hingabe zu Gott, nannte, zurückführen.

Auch später, in der weiteren Offenbarung Gottes, die nach islamischen Verständnis durch den ‚Mann Gottes’, Gavri-El, Erzengel Gabriel vermittelt wurde, ist der Koran durchdrungen von Elementen, die konfessionsübergreifend sind. So die Geschichte von Maria, Zakariya oder Maryam, der als einziger Frau im Koran eine eigene Sure gewidmet ist.

Maria wird ganz so beschrieben, wie sie auch uns bekannt ist: als vor allen Weibern der Welt auserwählte Frau. Als gereinigte Mutter, die ein Kind gebar, ohne dass ein Mann sie je berührt hat. Ein Kind, entstanden aus dem Schöpfungswillen Gottes, Allahs, der sprach: „Sei!“. So ward Jesus allein durch das Wort Gottes.

Anders übrigens als Mohammed. Der zum einen ganz profan der Sohn eines Vaters und einer Mutter war. Zum anderen zwar in seiner Himmelfahrt zu Allah aufstieg, nach seinem Tod aber nicht, wie Isa bin Maryam, Jesus, Sohn der Maria, wieder zum Leben erweckt wurde.

Welche Schlüsse zöge daraus wohl der wahhabitische Radikalfundamentalist und Anführer des IS, Abu-Bakr al-Baghdadi, würde er sich in einer schwachen Stunde daran erinnern?

Keine. Vielleicht.

Mittwoch, 7. September 2016


Unerhörte Gedankensplitter



1.

Alles, was so zwischen der offen rassistischen White Aryan Resistance (WAR) und anderen White Supremacy-Gruppierungen in der USA sowie den diversen Identitären Bewegungen in Europa changiert, die eine als Ethnopluralismus nur mühsam verhüllte völkische Einstellung vertreten, schaut mit Abscheu und Verachtung auf alles herab, was nicht ist wie sie.

Sie sind die Krone der Schöpfung, die Spitze der Evolution, die Herren der Welt. Die überlegene weiße Rasse, die es rein zu halten gilt. Insbesondere von Elementen der minderwertigen negroiden Spezies.

Nun hat aber das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig unter Leitung von Svante Pääbo in den letzten Jahren erstaunliches festgestellt: Den Neandertaler hat die Evolution gar nicht dahingerafft. Zumindest nicht vollständig. Er lebt. In uns. Denn bis zu 3% des Erbguts aller Menschen stammt von ihm, dem Vormenschen – selbst die Gene der edlen Herrenrasse sind davon betroffen.

Nur nicht die der Afrikaner...




2.

In der FAS las ich neulich einen kleinen Artikel, in dem über eine aktuelle soziologische Studie aus den USA berichtet wurde. Vorsorglich wies die Autorin darauf hin, dass diese Studie nicht ganz hält, was sich gewisse Kreise vielleicht von ihr versprechen. Aus gutem Grund, trägt sie doch den Titel „Warum die Integration von Muslimen in christlich geprägten Gesellschaften scheitert“.

Die Studie bezieht sich auf Langzeitbeobachtungen der Muslime in Frankreich. Als wesentlicher Grund für das Scheitern wird dort ein Aspekt ausgemacht, der mir, ich muss es gestehen, in dieser Form noch gar nicht recht in den Sinn gekommen ist: Die Abwehrreaktionen in der Gesellschaft finden nicht statt, weil man dem Islam eine Tendenz zur Frauenfeindlichkeit oder etwa höhere Affinität zu Gewalt zuschreibt. Nein: „Es ist die Sichtbarkeit religiöser Praxis, die Nicht-Muslime stört“.

Wir reiben uns in unserer säkularisierten Gesellschaft zunehmend an öffentlich zur Schau getragenen religiösen Symbolen. An Minaretten. An Verschleierungen. An Bärten. Natürlich kann man vermuten, dass dies im laizistisch geprägten Frankreich ausgeprägter ist als bei uns. Aber auch aus Deutschland kennen wir ganz ähnliche Abwehrreaktionen. Heute mehr denn je. Und vor allem aus Orten, wo diese Symbole in der Regel nur in der Theorie oder als Projektion auftauchen.

Das gilt aber nicht nur, wie man glauben möchte, für islamische Symbole. Alles Religiöse ist weitestgehend aus der Öffentlichkeit verbannt. Auch bei uns. Entsprechend begegnen wir allem Religiösen, das in der Öffentlichkeit sichtbar wird (oder werden könnte), mit irritiertem Unbehagen, stellt es doch für uns mittlerweile etwas Fremdes, Unbekanntes, potentiell Gefährliches dar. Und darauf reagieren wir nun mal selten mit einem freudigen Hallo, sondern eher mit entschiedener, manchmal sogar mit aggressiver Ablehnung. Erst verbal, dann physisch.

Mir schießt da ein unguter Gedanke in den Sinn: Sollte diese Studie tatsächlich stichhaltig sein – lässt sich ihr Fazit womöglich generalisieren? Was ist eigentlich mit den hunderttausenden von behinderten Mitbürgern, die früher ein ganz selbstverständlicher Teil des öffentlichen Bildes und damit der öffentlichen Wahrnehmung waren? Was wäre, wenn wir die Tore der Heime öffnen, die Behinderten in die Städte strömen und sie dort wieder für jeden sichtbar würden?

Wie würden wir dann wohl auf sie reagieren?




3.

Erzbischof Kardinal Woelki ist ein verständiger Mann, der mit beiden Beinen im diesseitigen Leben steht. Nichts Weltliches scheint ihm fremd zu sein. Eine Eigenschaft, die man nicht unbedingt jedem Geistlichen zuschreiben kann. Nun hat mich letztens aber dieser gute katholische Hirte durch eine Äußerung etwas irritiert. Da sagte er doch, dass er die derzeitige Debatte um das Zölibat und die Frauenordination nicht recht nachvollziehen kann, weil „diese katholischen Standpunkte dem göttlichen Schöpfungswillen entspringen“.

Zölibat und Ablehnung der Frauenordination sind dem „göttlichen Schöpfungswillen’“ entsprungen?

Ja, in der Tat: Die Frauenordination war bereits im Frühchristentum tabu. Die Gemeinde galt als weiblich, als Braut. Der Priester musste demnach, da hatte man ein ganz traditionelles Rollenverständnis, männlich sein. Wie der Bräutigam. Aber in der gesamten christlichen Literatur seit Anno Domini ist, Herr Woelki möge mich da eines besseren belehren, in diesem Zusammenhang niemals von einem Schöpfungswillen die Rede, dem das Verbot der Frauenordination zuzuschreiben ist. Und von einem göttlichen schon mal gar nicht.

Ähnliches gilt für das Zölibat. Zwar gibt es im Neuen Testament hier und da die Forderung, der Oberhirte einer Gemeinde möge doch bitteschön enthaltsam leben. In einem Akt der Freiwilligkeit, um des Himmelreichs willen, wie es so schön heißt. Um mit ungeteiltem Herzen sich seiner Aufgabe und den Menschen, also als Bräutigam der Braut Gemeinde zu widmen. Wobei es lange einen Dissens in der Frage gab, ob nun unter Zölibat die Ehelosigkeit oder aber die Enthaltsamkeit zu verstehen war  (die Vertreter der Ehelosigkeit scheinen mir recht sympathische moralische Schlawiner gewesen zu sein: Ein Priester sollte ehelos leben, aber nicht enthaltsam...).

Endgültig entschieden wurde diese Frage erst auf dem Zweiten Laterankonzil in Rom. Seitdem gilt für alle Geistliche das Zölibat als kodifizierte Form der sexuellen Enthaltsamkeit. Im Jahr des Herrn 1139 geschah dies, um genau zu sein. Doch was genau geschah da?

Das Zölibat ist, das hat uns Erzbischof Kardinal Woelki ja gelehrt, dem „göttlichen Schöpfungswillen“ entsprungen. Und da es ihm um die verbindliche, nicht aber um die freiwillige Form des Zölibats geht, muss er sich auf ihre Kodifizierung beziehen, die 1139 erfolgt ist. Zu diesem Zeitpunkt muss also, sollte Herr Woelki recht haben, der göttliche Schöpfungswille im Lateran irgendwie über die anwesenden Kleriker gekommen sein. Doch wie? Ist Gott womöglich selbst herabgestiegen und hat ihnen das Zölibat verkündet? Oder haben die gottesfürchtigen Herren daselbst den Heiligen Geist empfangen? Waren sie hernach der Zungenrede fähig?

Ich bin verwirrt, Herr Woelki. Warum erfährt die Menschheit erst jetzt von dieser wundersamen Begebenheit?