Geschichten aus Tausendundeinem Reich
Schahrasad stand ein jämmerliches Ende bevor. Ihr
Herr, König Schahriyar, sah sich von allen Frauen schändlich hintergangen,
belogen und betrogen. Hinter dem Rücken ihrer Gebieter spannen sie ihre
lustvollen Fäden und teilten heimlich das Bett mit ihren Geliebten, um sich ihnen
mit Wonne hinzugeben. Der König, um nicht auch so gedemütigt zu werden, besann sich einer besonders perfiden Art der
Vorsicht: Alle Mädchen, die ihm des Nachts zugeführt wurden, ließ er nach
vollzogenem Beischlaf am nächsten Morgen töten.
Dieses Schicksal sollte auch Schahrasads Schicksal werden. Um ihm zu entgehen, wandte
sie eine List an: Sie verzauberte den grausamen König allabendlich mit ihren köstlichen
Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die ihn bannten bis der nächste Morgen
graute. So sehr, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als dass Schahrasad am
folgenden Abend mit ihren Erzählungen fortfahren möge – und sie deshalb
einstweilen verschonte.
Auch in der 999. und 1000. Nacht erzählte Schahrasad
ihrem König Geschichten, denen er wie betäubt lauschte. Doch dieses Mal waren
es nicht einfach „Sprichwörter, Fabeln,
Anekdoten, Geschichten und Witze, wahre Begebenheiten, Nachrichten aus den
Chroniken und Überlieferungen zur Geschichte vergangener Zeiten, Kassiden und
Gedichte“.
Nein. Dieses Mal war es seine eigene Geschichte. Ein
Spiegel, den sie ihm vorhielt, um ihn zur Einsicht zu bringen und zur Umkehr zu
bewegen. Und König Schahriyar hatte den Verstand und auch die Größe, das zu
erkennen, hernach sein Leben zu ändern und das Leben anderer zu schonen.
Märchenhaft, eine solche Wendung und Wandlung.
Doch wer glaubt heute noch an Märchen? Man sollte sich sowieso keine Märchen
mehr erzählen lassen. Sondern die Fakten, nichts als die Fakten sprechen
lassen. Und „Mein Kampf“ lesen:
Adolf Hitler hat darin in entwaffnender
Ehrlichkeit und schonungsloser Offenheit zum Ausdruck gebracht, was er von der
Masse seiner arischen Herrenrasse hielt – nichts.
Der „in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin“
veranlagte Arier, sein ganzes Denken und Handeln wird, so Hitler, durch die „Primitivität der Empfindung“ bestimmt.
Dabei ist „die Aufnahmefähigkeit der
großen Masse ... nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür aber die
Vergesslichkeit groß“.
Dem tumben Arier
muss ein apokalyptisches Schreckensszenario gezeichnet werden, das in ihm diffuse
Ängste auslöst. Diese müssen propagandistisch in eine „grundsätzlich subjektiv einseitige Stellungnahme“ münden, welche nicht
„objektiv auch die Wahrheit ... zu
erforschen (hat), um sie dann der Masse in doktrinärer Aufrichtigkeit
vorzusetzen“.
Die ‚volkstümliche’ Rhetorik hat „ihr geistiges Niveau einzustellen nach der
Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten“ unter den Ariern. „Damit wird ihre rein geistige Höhe um so
tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein
soll.“
Der „feminin“ konstituierten, geistig
limitierten und am typisch deutschen „Objektivitätsfimmel“
leidenden Herrenmasse muss mit „einer
tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe“ der ewig gleiche Inhalt eingebläut
werden. Solange, bis sie keine andere Wahrheit mehr kennt als die ‚eigene’. Und sei sie auch eine Lüge.
Kein Märchen. Kein
Witz. Sondern O-Ton.
Es steht jedoch zu
befürchten, dass die Moral von der Geschicht’ die nicht erkennen, die es
betrifft. Und es mit ihnen kein solch glückliches Ende nehmen wird. Diese Unverbesserlichen
halten es dann wohl eher mit betagtem
Herrn Palmström aus Christian Morgensterns Gedicht „Die unmögliche Tatsache“:
Eingehüllt
in feuchte Tücher / prüft er die Gesetzesbücher / und ist alsobald im klaren: /
Wagen durften dort nicht fahren! / Und er kommt zu dem Ergebnis: / „Nur ein
Traum war das Erlebnis, / Weil“, so schließt er messerscharf, / „nicht sein
kann, was nicht sein darf.“
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